66. Filmfestspiele von Cannes:Leidenschaft gewinnt

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Vom Willen, von der Welt zu erzählen: Der Wettbewerb in Cannes setzte in diesem Jahr auf Geschichten von Ohnmacht und Eskalation. Die goldene Palme gewinnt aber eine Liebesgeschichte zweier Frauen - "La vie d'Adèle".

Von Susan Vahabzadeh, Cannes

Eigentlich ist es paradox: Die Filmfestspiele in Cannes sind ja dazu da, sich mit aller Macht gegen die Blockbuster-Prinzipien der Verdrängung zu stellen, die verlangen, dass ein einziger Film möglichst große Teile des Publikums bindet. Cannes hingegen verschafft Filmen, in denen nichts explodiert oder von vorneherein ein Spektakel zu sein versucht, das Rampenlicht, in dem sonst nur Actionfilme stehen. Und je erfolgreicher das Festival das tut, umso mehr wird es selbst so ein Blockbuster, der Blockbuster unter den Festivals. Mehr und mehr scheint Cannes alle wichtigen Filme an sich zu raffen, bis für die Konkurrenz-Festivals kaum noch etwas übrig bleibt. Wäre das wünschenswert, eine totale Machtkonzentration in Sachen Filmkunst bei nur einem Festival? Eher nicht. Aber man soll nicht meckern, wo es einstweilen nichts zu meckern gibt.

Bis zum letzten Moment hielt das Festival die Spannung in einem furiosen Wettbewerb, legte am letzten Tag noch mal zu. Früher gab es da - schon aus Rücksicht auf die ersten Abreisewellen und die Erschöpfung des verbliebenen Publikums nach zwölf Tagen Kino-Marathon - oft nur noch ein paar Nachzügler von den Rändern der cineastischen Welt. In diesem Jahr gab es zum Schluss den Vampirfilm "Only Lovers Left Alive" von Jim Jarmusch und Roman Polanskis "Venus im Pelz", einen wunderbar sarkastischen Film, über dessen Vorlage - ein Theaterstück - er sagt, dass ihm die "feministische Seite" daran so gut gefällt.

Der Wille, etwas von der Welt zu erzählen, war sichtbar

Die Nebenreihe "Un certain regard" hat sich zu einem Zweit-Wettbewerb ausgewachsen, neben dem die ersten Wettbewerbe anderer Festivals blass aussehen. Mohammad Rasoulof machte dort den Abschluss, der iranische Regisseur, der zusammen mit Jafar Panahi verurteilt wurde. Heimlich hat er "Les manuscrits ne brûlent pas" gedreht, einen Film über zwei ziemlich kaltblütige Profikiller, die ihrem Geschäft unaufgeregt nachgehen. Man könnte das für Genrekino halten, würden die beiden nicht im Auftrag einer nicht näher bezeichneten Behörde regimekritische Schriftsteller foltern und umbringen.

Man sah diesem Programm insgesamt den Willen an, etwas von der Welt zu erzählen - ungewöhnlich viel Gewalt trieb die Filme an, Geschichten über Ohnmacht und Eskalation - eine Parade der düsteren Visionen. Sehr stilisiert in Nicolas Winding Refns "Only God Forgives", hyperrealistisch in "Heli" über den Drogenkrieg in Mexiko - Regisseur Amat Escalante bekam dafür den Regiepreis -, surreal in "Borgman", in der eine holländische Familie von Obdachlosen erst annektiert und dann vernichtet wird.

Arnaud des Paillères' Kleist-Verfilmung "Michael Kohlhaas" war dann, trotz des Stars Mads Mikkelsen, einer der schwächeren Filme, passte thematisch aber ganz genau: Kohlhaas' brutaler Aufstand gegen einen korrupten, sich bereichernden Adel und seine Justiz ist gleichsam ein Urahn der Geschichten aus dem China von heute, die Jia Zhangke in "A Touch Of Sin" zusammengetragen hat. In dem Film, der mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, laufen vier Menschen Amok gegen die Parteibonzen und Großunternehmer, die sich auf ihre Kosten bereichern und denen sie ausgeliefert sind.

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Von Susan Vahabzadeh

Dazu kamen dann, passend zur in Frankreich sehr hitzig geführten Debatte um die Schwulenehe, zwei herzzerreißende homosexuelle Liebesgeschichten, "Behind the Candelabra" von Steven Soderbergh und Abdellatif Kechiches "La vie d'Adèle" - Kechiches leidenschaftlicher, sinnlicher Film war der Favorit der Kritiker. Jury-Präsident Steven Spielberg und seine Co-Juroren sind genauso dem Zauber erlegen, den Kechiche aus ganz naher Beobachtung entstehen lässt. Die Goldene Palme hat er dann mit seinen beiden Hauptdarstellerinnen, Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux zusammen bekommen.

Auch Asghar Farhadis Patchworkfamiliendrama "Le Passé" galt als einer der Favoriten, in seiner Geschichte ist am Ende nichts lösbar, alle müssen sich mit dem Schaden, den ihr Leben genommen hat, einrichten. Ein Film, der so perfekt gefilmt und inszeniert ist, dass einem das, was diesen Figuren passiert, die Kehle zuschnürt. Bérénice Bejo ist für die Hauptrolle als beste Darstellerin ausgezeichnet worden.

Harte Kost, überwiegend. Aber da haben eben Jim Jarmusch und Roman Polanski dem Wettbewerb ein wenig Humor und Sarkasmus zurückgegeben, den bis dahin nur die Coens dort hineingebracht hatten mit ihrem Film über einen scheiternden Folksänger, "Inside Llewyn Davis" - der dann immerhin den Grand Prix du Jury bekam.

Polanski hat mit Leichtigkeit einen Film inszeniert, der auf sehr skurrile Weise sehr persönlich ist: ein Abend in einem leeren Theater, ein Regisseur, der Polanski sehr ähnlich sieht (Mathieu Amalric) wird am Ende eines anstrengenden, ergebnislosen Tages, an dem Schauspielerinnen für sein neues Stück "Venus im Pelz" , frei nach Sacher-Masoch, vorgesprochen haben, von einer Frau heimgesucht, die ihm schnell unheimlich wird. Vanda (Emmanuelle Seigner, Polanskis Frau) wirkt auf den ersten Blick ziemlich nuttig und ein wenig dämlich.

Ein komischer Balanceakt am Rande der Melancholie

Dann fängt sie an zu spielen - und schnell merkt er, dass sie ihm über ist. Ein komisches Schauspiel- und Wortduell entbrennt zwischen den beiden, und irgendwann ist klar: Sie will gar nicht die Rolle als Venus im Pelz, die dem Mann im Stück den Kopf verdreht. Eher schon ist sie so eine Art Rachegöttin, die gekommen ist, den Regisseur für seinen degradierenden Sexismus zu strafen. Ein durch und durch spannendes Kammerspiel hat Polanski da inszeniert - das der Interpretation Raum lässt, dass er ihre Rache durchaus verdient hat.

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Jarmuschs "Only Lovers Left Alive" beginnt mit einer Ansicht von oben, Tilda Swinton liegt da, und die Kamera dreht sich über ihr: Eve lebt in Tanger, aber man sieht sie nur in der Nacht, tags muss sie, wie alle Vampire, schlafen. Weil ihr Mann Adam (Tom Hiddleston) ein wenig suizidal wirkt beim Skypen, fliegt sie nach Detroit, wo er als Underground-Musiklegende in einem verfallenen Stadtviertel wohnt. Jarmusch hat in den aufgegebenen Villen der ehemaligen Auto-Metropole Detroit ganz großartige Bilder gefunden, vor allem aber beweist er noch einmal, wie mühelos fließend seine Inszenierungen wirken können.

Ein komischer Balanceakt am Rande der Melancholie - Adam und Eve, alt wie die Welt, wissen alles und beurteilen die trostlose Menschheit, die seit ewigen Zeiten an ihnen vorüberzieht, aus dem Abstand von Jahrtausenden: Zombies, lautet ihr Urteil, sind so blöd, dass sie ihr eigenes Wasser und ihr eigenes Blut vergiften. Ein Film darüber also, dass das Menschenleben zu kurz ist, um es wirklich zu verstehen. Ein wunderbarer Wettbewerbsschluss: Die Kunst, das Schwere leicht zu nehmen, ist im Kino eine Königsdisziplin.

© SZ vom 27.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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