Sprachlabor:Keine "von Kleist"!

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(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

Katja Lange-Müller schreibt einen Satz mit 76 Wörtern

KATJA LANGE-MÜLLER ist eine üppig dekorierte Schriftstellerin, und so war es denn für unser Feuilleton eine Ehre und Freude, sie im Kafka-Jahr zu der Frage zu Wort kommen zu lassen, ob Gregor Samsa, der traurige Held der "Verwandlung", eines Morgens als Käfer oder als ein anderes Tier aufwachte. Gott, was für ein elend langer Satz!

Diesen Vorwurf macht Leser W. auch unserer Autorin. Er hat sich "ob Ihrer ungehörig langen Schachtelformeln" gegrämt und sagt ihr - "mit Respekt" - auf den Kopf zu, dass sie "keine von Kleist" sei: Der habe "uns schiere Endlossätze schenken" dürfen. Da Herr W. die Belege schuldig blieb, haben wir nachgezählt. In Lange-Müllers Text gab es in der Tat einige Sätze mit 40 bis 60 Wörtern; der längste hatte 76 Wörter, und wenn er beweiseshalber hier abgedruckt würde, wären wir 14 Zeilen länger.

Kleist, der in Sachen Schachtelsätze immer und zu Recht herangezogen wird, wäre beim 76. Wort erst richtig in Fahrt gekommen. Nehmen wir nur seine Erzählung "Der Zweikampf": Deren erster Absatz besteht aus 250 Wörtern, aufgeteilt auf drei Sätze, von denen allein der dritte 111 Wörter umfasst. Natürlich ist Kleist mengenmäßig längst übertroffen. In der Literatur wird gern das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 6. April 1993 (Az: 1 Sa 10/93) herangezogen, dessen Begründung aus einem Satz von 368 Wörtern besteht. Man ist da immer noch weit weg vom altgriechischen Staatsmann Solon, dem ein Satz von etwa 4500 Silben nachgesagt wird, aber schon recht nah an Hermann Broch, in dessen "Tod des Vergil" ein Satz von 1077 Wörtern vorkommen soll.

Broch nannte den "Vergil" ein "schwieriges Buch", das "seine unglücklichen Leser von vornherein verwirrt". Vielleicht sollte das Feuilleton außerordentlichen Gastbeiträgen künftig so einen Warnhinweis mit auf den Weg geben.

AUS BERNRIED war zu hören, dass ein vielversprechendes Projekt "noch in den Kinderfüßen" stecke - "ein Schritt, den nun auch Tutzing geht". Leser Z. verzichtete darauf, den Tutzinger Schritt näher zu untersuchen. Er begnügte sich mit der Frage: "In was stecken die Kinderfüße?"

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