Leserbriefe:Mauern in den Köpfen

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Ausgelassen feiern Ost und West an und auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor Silvester 1989. (Foto: picture alliance / dpa)

In "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" schreibt Dirk Oschmann über benachteiligte ostdeutsche Männer. Die SZ-Leserinnen und -Leser nehmen das Werk unterschiedlich wahr.

"Der blinde Fleck" vom 10./11. Juni, "Das ist ja zum Gähnen" vom 7./8. Juni:

Wir im Westen

Die ausführlichen Äußerungen von Dirk Oschmann liefern keinen Funken neuer Originalität gegenüber der längst uferlosen Vorwurfs-, Mitleids- und Selbstmitleidsliteratur in Sachen "Osten". Buchtitel wie "Integriert doch erst mal uns!" oder "Die große Freiheit ist es nicht geworden!" bedürfen in ihrer Absurdität keiner Kommentierung. Das Schuldgefühl ist längst im Westen angekommen.

Schon klar, "wir" haben die nach dem Herbst 1989 so glückliche DDR in die deutsche Einheit genötigt, "wir" haben ihr die Treuhand aufgezwungen, "wir" haben ihren Dörfern die geliebten Straßennamen zur Ehre von Pieck, Grotewohl, Thälmann und Lenin weggenommen. "Wir" westliche Wichtigtuer entdecken plötzlich Stasi, Mauer und Willkürjustiz. Einwände sind nicht erlaubt.

Gab es da nicht einen überwältigenden Wahlsieg der auf schnelle Vereinigung setzenden Parteien? War die Treuhand nicht eine Gründung der frei gewählten letzten Volkskammer? Waren für die Umbenennung von Straßen nicht die am 7. Mai 1990 gewählten örtlichen Gemeinderäte zuständig? Hatten nicht Hunderttausende 1989 gegen Stasi, Mauer und Willkürjustiz in der ach so gemütlichen DDR demonstriert?

Hinsichtlich der angeblich aus reiner Bosheit des Westens inszenierten ökonomischen Strukturschwäche im Osten könnte ein Blick auf andere Regionen Deutschlands und Europas helfen. Entsprechen Löhne, Abiturquoten und Aufstiegschancen im gesamten Ost- und Nordrand Bayerns, in der Lüneburger Heide oder in der Eifel dem Niveau zwischen Stuttgart, Mannheim, Frankfurt und Mainz?

Sind bayerische Staatsregierungen mit einer "Konstruktion Bayerischer Wald" an den Defiziten schuld? Sind Personen mit ausgeprägtem Oberpfälzer oder Allgäuer oder Saarbrücker Dialekt in Dax-Vorständen und Professorenschaft angemessen vertreten und diskriminieren "wir" tatsächlich nur die Sachsen? Entdeckt mal ein Autor in Österreich, dass eine dortige "Konstruktion des Ostens" am Wohlstandsgefälle zwischen Arlberg, Seefeld, Kitzbühel auf der einen und Gmünd, Zwettl und Wulkaprodersdorf auf der anderen Seite schuld ist?

Mein Bild des "Ostens" beziehe ich nicht aus intellektuellen Projektionen, sondern aus der herzlichen Verwandtschaft und Freundschaft mit einer ganzen Anzahl von Familien zwischen Ostsee und Erzgebirge. Die älteren Generationen habe ich schon zu tiefsten DDR-Zeiten oft und gern besucht. Ihre Freude über die Elemente der Befreiung ab 1989 berührt mich noch heute. Gerade hier darf ich erwähnen, mit welcher Begeisterung mein Onkel in Halle jenen Januartag 1990 feierte, von dem an die tägliche Zustellung der Süddeutschen Zeitung gesichert war.

An den Wegen der jüngeren Generationen nahm und nehme ich mit steter Freude teil. Man lebte oder lebt in Löbau oder in Karlsruhe, in Stralsund oder in Lübeck, in Berlin-Pankow oder in Halle. Man arbeitet als Eisenbahner in Leipzig oder als Richterin in München, als Fachjournalist in Erfurt oder als Bildhauerin in Bamberg. Man hat Freunde in Prag und in Paris. Und man hat für die Pflege eines narzisstischen Selbstbildes als "Opfer" des Westens wohl einfach gar keine Zeit.

Andreas Knipping, Eichenau

Die im Osten

Was Anna Rabe im Gastbeitrag gleich im ersten Satz - für meine Begriffe - zurückpoltert, ist erstaunlich. Ich möchte mich hier nur auf das Buch von Dirk Oschmann beziehen. Ja, ich stimme zu, Oschmann hat sich irgendwann ein bisschen in eine Richtung eingeschossen (speziell, das zu Männern und Frauen, was kurioserweise in Rezensionen immer gezielt herausgepickt wird - den Teil fand ich, als ehemalige "Ostdeutsche" auch etwas befremdend).

Nichtsdestotrotz beschreibt er meiner Meinung nach Situationen, Gefühle und Erfahrungen, die in meiner Generation und der meiner Eltern unter ehemaligen Ostdeutschen existieren. Darf man heutzutage meinungsmäßig nur noch dem Mainstream folgen? Ich stelle mir die Frage, ob die Autorin vor der Wende jemals im "Osten" war oder ob sie ihr Wissen lediglich aus diversen, ja dann möglicherweise ausgewählten Quellen bezieht. Und wie oft war beziehungsweise ist sie heutzutage in diesen Regionen bevölkerungsnah unterwegs?

Ich lebe seit dem 1. November 1989 im ehemaligen Westteil Deutschlands und habe dank eines Teils meiner Familie und ein paar glücklicher Umstände als alleinstehende Mutter mit einem Sohn einen denkbar guten Start gehabt: Ich arbeitete seit dem 1. Januar 1990, hatte seit Februar 1990 einen Kindergartenplatz und so weiter. Ich bin gerade aus meiner Situation heraus der Ansicht, dass man diese Stimmungen, Erlebnisse und Meinungen trotzdem ernst nehmen muss, um nicht extremistischen Ansichten weiter Vorschub zu leisten. Ich erinnere mich, dass ich sehr erstaunt, ja entsetzt war, was mein Sohn in der Schule (in einem bayerischen Gymnasium) schlicht falsche Sachen über das Leben in der ehemaligen DDR gelernt hat.

Und kommt der ehemalige Osten nicht einfach in manchen Darstellungen und Dokumentationen gar nicht vor? An sich sollten wir uns eher bemühen zu reden, in dem Bestreben, einander zu verstehen, um zu einigen (wie im letzten Abschnitt geschrieben), anstatt immer wieder auf den alten trennenden Sachen herumzureiten beziehungsweise sie schlicht zu negieren.

Nach einem Gespräch mit einer Nachbarin hatte ich die Gelegenheit, das in der SZ abgedruckte Interview mit Dirk Oschmann zu lesen. Danach verstehe ich die Rezension umso weniger.

Dr. Reglindis Huber, Gauting

Der Einigungvertrag

Was mich wundert, ist, dass weder Dirk Oschmann noch Cornelius Pollmer auf den Einigungsvertrag zu sprechen kommen. Wenn es für die Theorie des strukturellen Determinismus noch eines Praxisbeweises bedurft hätte, der Vertrag vom 3. Oktober 1990 hat ihn geliefert. Alles, was Oschmann zornig auflistet, ist eine Folge der in dem Abkommen vereinbarten Strukturen. Es wurde ja nicht auf Augenhöhe verhandelt. Die DDR hatte den Kalten Krieg verloren. Die 16 Millionen DDR-Bürger hatten keine Lobby.

Der westdeutsche Verhandlungsführer Wolfgang Schäuble saß an beiden Seiten des Verhandlungstisches. Sein DDR-Counterpart, Günther Krause, hatte nicht viel zu sagen und eine eigene Agenda. Erst wurde er Bundesverkehrsminister, dann verurteilt. Den Westdeutschen ging es darum, sich nicht zu verändern und den Osten mit Geld zu befrieden. Stefan Heym, einer der schärfsten DDR-Kritiker, kommentierte damals, dass der Westen nun einen Igel verschluckt hätte. Und sarkastisch wünschte er "gute Verdauung".

Prof. em. Wolfgang Kleinwächter, Leipzig

Rechtsextreme seit 1980

Im Artikel von Anna Rabe ist zu lesen: "Der Osten ist nach 1989 Heimat und Aufmarschgebiet für Rechtsextremisten und auch für ihre Eliten aus Westdeutschland geworden."

Die Formulierung legt nahe, dass es in in der DDR selbst keine rechtsextremistische Bewegung gegeben habe. Offiziell trifft das zu. Die SED-Machtträger, in erster Linie das MfS, haben sie schlicht ignoriert, wohl weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Tatsächlich sah die Sache anders aus, wie Harry Waibel in seinem viel zitierten Buch "Rechtsextremismus in der DDR bis 1989" ausführt. Oder in aller Kürze von Jens Riebe. Danach kann man von einer rechtsextremistischen "Bewegung" seit circa 1980 reden.

Bei der Diskussion um die Herkunft des Rechtsextremismus in ehemaligen DDR-Gebieten wird gerne vergessen, dass es vor 1990 auch und gerade in der DDR einen manifesten Rechtsextremismus gegeben hat. Es ist auch schwer vorstellbar, dass nach dem Krieg zwar in Westdeutschland ein erhebliches Potenzial an NS-Gesinnungsgenossenschaft weiter existiert hat, aber in der DDR nicht. Nur musste sie sich im Osten andere, weniger offensichtliche Kanäle suchen.

Florian Hildebrand, München

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