"Me Too" im Film:Grenzüberschreitung gestern und heute

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Eine Szene aus dem berühmten und nun in die Diskussion geratenen "Tatort"-Krimi "Reifezeugnis": die damals 15-jährige Nastassja Kinski als Schülerin Sina mit ihrem Lehrer Helmut Fichte, gespielt von Christian Quadflieg. (Foto: NDR/picture alliance / dpa)

Die Schauspielerin Nastassja Kinski stand in den Siebzigerjahren als Teenager für Nacktszenen vor der Kamera. Heute empfindet sie die Aufnahmen als übergriffig. Aus Sicht der SZ-Leser sind noch viele Fragen offen.

"Eine Frau mit 13" vom 9. März:

Haben die Eltern zugestimmt?

Bestimmt waren die frühen 70er-Jahre eine andere Zeit, sexuell offener und freier, vor allem aber unreflektierter als heute. Ihr Bericht hinterfragt die Situation bei Dreharbeiten mit Nastassja Kinski sehr gründlich, als sie in einem Fall 13 Jahre alt war und 15 Jahre im anderen Fall, dem oft wiederholten "Tatort: Reifezeugnis".

Aber ein Aspekt bleibt sehr schwach beleuchtet: die Rolle der Eltern des jungen Mädchens. Trennung und Scheidung hin oder her, aber eine Mutter kann doch ihre minderjährige Tochter bei Dreharbeiten nicht allein lassen. Oder sie hätte anschließend, als sie von den Nacktszenen Kenntnis erlangte, widersprechen müssen. Hier hätte ihr Bericht stärker ansetzen müssen.

André Maßmann, Duisburg

Mehr Recherche, bitte

"Das Fragenstellen fängt gerade erst an", so lautet der letzte Satz im Text von Claudia Tieschky über Nastassja Kinski. Einigen Fragen hätten Sie vor dem Verfassen des Artikels nachgehen sollen. Warum etwa wurde nicht recherchiert, wer damals die Verträge für Kinski unterschrieben hat - die Mutter? - und ob es darin einen Passus über Nacktaufnahmen gab? Es ist bequem für Kinski, heute eine Entschuldigung zu fordern und die Szenen zu skandalisieren, aber zu ignorieren, dass die Verantwortung für ihre Auftritte wohl auch in der eigenen Familie liegt. Wer müsste sich also entschuldigen?

Warum räumt man einer prominenten Schauspielerin die Aufmacherseite im Feuilleton frei und prüft offenbar ihre Behauptung nicht, sie sei erst am Set mit der Bitte um Nacktheit konfrontiert und ihre Mutter sei beim Dreh des "Tatorts" mit Absicht nicht eingeladen worden. Und wenn Kinski sich, wie sie sagt, beim Drehen nicht wohlgefühlt hatte, hätte sie dann nicht etwas sagen müssen, um die expliziten Szenen zu verhindern? Vielleicht ist das tatsächlich zu viel verlangt von einer sehr jungen Frau. Aber es ist sicher nicht vermessen, von der SZ mehr Recherche zu fordern.

Eckhard Hooge, Melle-Buer

Späte Erkenntnis

Mein Leserbrief hat nur eine Frage: Wenn das alles so schlimm ist, warum haben eigentlich die Medien einschließlich der SZ seinerzeit noch keine Kritik geübt?

Dr. Horst Kiderlen, Würzburg

Erschütternde Handlung

"Warum haben sie es nicht anders gedreht?" Dieser Frage der Schauspielerin Nastassja Kinski räumt die SZ einen ganzseitigen Artikel ein - angemessen. Nur lässt der Text wesentliche Antworten vermissen. Was zu lesen ist, ist weitgehend bekannt: Der Regisseur Wim Wenders nimmt für sich das Argument in Anspruch, die Nacktaufnahmen der damals 13-jährigen Kinski seien ihm seinerzeit als "künstlerisch durchaus zwingend" erschienen.

Was nicht zu lesen ist, ist die ebenso erschütternde Handlung: Im Film von Wim Wenders missbraucht ein Mann ein Mädchen, danach schlägt und liebkost er es - nicht als Überreaktion wegen des Missbrauchs, sondern weil es sich als die "falsche" Frau herausstellt. Wie Frauen entmachtet und erniedrigt werden, wird in der Soziologie seit den 60ern diskutiert; die Frauenbewegung hat es lautstark angeprangert. Wim Wenders setzt diesen Mechanismus ins Bild, absichtsvoll. "Künstlerisch zwingend" als Argument ist beschämend.

Ebenso erschütternd in seiner Ignoranz ist die Rechtfertigung des NDR der Nacktaufnahmen eines 15-jährigen Mädchens mit dem Verweis auf die sexuelle Freizügigkeit der 70er-Jahre. Gilt der "Zeitgeist" ebenso als Rechtfertigung für den Missbrauch unzähliger Kinder in pädagogischen, theologischen und sozialen Institutionen in der Zeit? Nastassja Kinski stellt die Frage heute, und 50 Jahre Debatte um sexualisierte Gewalt liefern den Kontext. Das Angebot eines persönlichen Gesprächs als Entschuldigung ist da unangemessen.

Ilse Baumgarten, Utting am Ammersee

Wo waren die Verantwortlichen?

Ein Kind am Set derart zu missbrauchen, ist schon heftig. Wer im Film das Sagen hatte, hätte das gar nicht zulassen dürfen: ein Kind nackt vor der Kamera. Und wo war die Mutter? Sie hätte es doch wissen können aus den Berichten ihrer Tochter, sämtliche Alarmglocken hätten da bei einer Erziehungsberechtigten schrillen müssen. Hat man in der Familie aus Geldnot letzten Endes geschwiegen? Wo waren all die Verantwortlichen?

Dieses Kind war Unzumutbarem ausgesetzt, und niemand hat dem Einhalt geboten. Dass Nastassja Kinski sich nun dagegen wehrt, ist ihr gutes Recht, aber leider Jahrzehnte zu spät.

Sabine Weber, Bad-Honnef

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