IAA-Proteste:Die Schuld der Aktivisten - und die Schuld der Politik

Lesezeit: 5 min

Hart bestrafen - oder nicht? Über mögliche Konsequenzen einer Banner-Aktion gegen die IAA in München gibt es einen heftigen Dissens. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Harte Strafen für Autobahn-Blockierer fordern die einen, andere sehen jede Verhältnismäßigkeit verletzt und verteidigen das gewaltlose Aufrütteln mit Transparenten.

"Wir sind aus allen Wolken gefallen" und Kommentar "Eine Anklage, die einschüchtern soll", beides vom 7. September:

Ziviler Ungehorsam ist nötig

In der SZ wird über horrende Strafen für Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten berichtet. Ja, was soll man denn als junger Mensch in diesem Land sonst machen, als zivilen Ungehorsam zu praktizieren? In einem Land, in dem es unmöglich ist, die Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 130 zu reduzieren? In dem Stelen mit 911er Rennwagen in Stuttgart aufgestellt werden, in dem SUVs als höchstes Ziel dargestellt werden? In einem Land, in dem man demonstrieren kann, soviel man will, in dem sich aber nichts ändert, um die Klimakatastrophe aufzuhalten? Letztendlich in einem Land, in dem seit Jahrzehnten für das Auto alles getan wird, nicht aber für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr.

Das Neun-Euro-Ticket hat die Schwächen offenbart. Die Bahn kann in kurzer Zeit nicht aufholen, was über Jahrzehnte versemmelt wurde. Ich möchte nur an einen Verkehrsminister Scheuer erinnern, der eine halbe Milliarde Euro in den Sand setzen darf ohne Konsequenzen. Man kann doch gar nicht radikal genug werden, um auf alle diese Missstände aufmerksam zu machen. Dass man für eine Transparent-Aktion an einer Autobahnbrücke ins Gefängnis gehen soll - es ist nicht zu fassen!

Sonja Schmid, München

Aktion mit tödlicher Gefahr

SZ-Redakteur Bernd Kastner ist es offensichtlich entgangen, dass bei einer ähnlichen Blockade in Nordrhein-Westfalen ein Autofahrer tödlich verunglückt ist. Todesfälle sind also bei illegalen Aktionen nicht auszuschließen. Daher finde ich es absolut gerechtfertigt, diese Demonstranten, die Gesetzesverstöße begehen, abzuschrecken und möglichst lange einzusperren, damit diese über ihr Handeln nachdenken können. Ein Kommentar, der massive Gesetzesverstöße mit Gefährdungspotenzial schönredet, ist der SZ unwürdig - passt allerdings zum "woken" Zeitgeist.

Bodo Schmidt, München

Gute und böse Blockaden

Wieder einmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass unter den Angehörigen deutscher und vor allem bayerischer Staatsanwaltschaften ein recht rückständiges Gesellschaftsverständnis vorherrscht. Wenn die Richtigen, also die Wichtigen, vom Bayerischen Hof nach Elmau pendeln, werden nicht nur unsere Städte und Verkehrsadern weiträumig gesperrt, sondern der Luftraum gleich dazu. Stau und Hubschrauberlärm haben wir als quasi gottgegeben zu ertragen, es ist in unser aller Wohl. Und mehrmals täglich werden im Land Autobahnen für Stunden gesperrt, weil jemand trotz Allradantrieb und Tempolimit zu schnell unterwegs war: Dass solche Täter strafrechtlich belangt oder auch nur verfolgt würden wegen Nötigung, hat man noch nicht erfahren. Gehört dazu. Wir fahren schließlich alle Auto. Den jungen Klimaaktiven fehlen hingegen Wissen und Erfahrung, um den Gesamtzusammenhang zu verstehen, das wissen wir doch, unserem Porscheminister Lindner sei Dank...

Michael Seitz, München

Himmelschreiende Unverhältnismäßigkeit

Schier sprachlos gemacht hat mich der Artikel über die Klimaaktivisten, oder besser: über die Strafforderung der Staatsanwaltschaft. Wo bitte leben wir? Meist junge Menschen, die die Sorge um die Zukunft umtreibt, versuchen immer wieder, gewaltlos (!) auf eklatante jahrzehntelange Versäumnisse von Politik und Wirtschaft aufmerksam zu machen - Versäumnisse, deren Folgen zwar eigentlich schon einige Zeit zu sehen sind, die aber nur allzu gerne ignoriert werden. Und eine Veranstaltung wie die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) ist wahrhaftig total aus der Zeit gefallen.

Natürlich ist es "ärgerlich", im Auto im Stau zu stehen, aber Hunderte und Tausende von Autofahrern begeben sich täglich freiwillig in Staus, verpesten die Luft. Ich habe noch nie davon gehört, dass irgendein Autofahrer, eine Autofahrerin in Präventivhaft genommen worden wäre oder mit einer Haftandrohung von zwei Jahren oder mehr hätte klarkommen müssen, weil er/sie aus irgendeinem Grund einen Stau verursacht hat und am Ende des Staus Auffahrunfälle drohten. Ich bin gespannt, wie ein solches Szenario zukünftig von der Staatsanwaltschaft gesehen wird.

Und was heißt hier "Nötigung"? Da werden knapp 1300 Personen "genötigt", im Stau zu stehen. Wie schrecklich, mal darüber nachzudenken, warum da Personen an einer Brücke baumeln. Welche Möglichkeiten des "Aufrüttelns" gibt es noch? Es bleiben nur "außergewöhnliche" Aktionen, Proteste. Und natürlich gibt es Regeln, Gesetze, deren Übertretung geahndet werden kann/soll/muss; aber in diesem Fall ist ja absolut keine Verhältnismäßigkeit in der Reaktion zu erkennen.

Der Kommentar zum Thema trifft es : "Eine Anklage, die einschüchtern soll". Genauso sehe ich das auch. Und eben deshalb meine Frage: In welchem Land leben wir eigentlich? Wann endlich wird verstanden, dass Profitdenken, das Streben nach "immer mehr" und - vermeintlich - "immer besser" ausgedient haben? Es wird nur zusehends ungemütlicher und enger auf unserem Planeten.

Ingrid Suhr-Täger, Gröbenzell

Peinliche Willkür

Millionenfach auf deutschen Straßen: Der Sicherheitsabstand wird vorsätzlich nicht eingehalten, es kommt zum Auffahrunfall und stundenlangem Stau. Mir ist nicht bekannt, dass der Fahrer deshalb wegen Nötigung angeklagt oder gar Schadenersatz eingefordert wurde. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.

Wilfried Tettweiler, Krailling

Verkehrte Welt

Der Artikel hat mich entsetzt. Sehr vereinfacht zusammengefasst bedeutet das: Diejenigen, die sich dafür einsetzen, dass die Welt nicht zerstört wird, sollen möglicherweise ins Gefängnis, weil sie gegen diejenigen protestieren, die sie kaputt machen. Besteht tatsächlich der Tatbestand der "Nötigung", weil jemand im Stau steht, mit dem er auf Autobahnen ohnehin ständig rechnen muss? Was ist damit, dass ich jeden Tag schädliche Abgase einatmen muss auf meinem Arbeitsweg per Rad in die Stadt? Ist das dann auch Nötigung? Klagt die Staatsanwaltschaft hier für mich jemand an? Ich hoffe hier sehr auf ein Gericht mit Augenmaß.

Selbstverständlich muss Protest zu 100 Prozent gewaltfrei sein. Sich dabei an eine Autobahnbrücke zu ketten, ist aus meiner Sicht nicht das richtige Mittel, weil es eben dabei doch zu Unfällen kommen kann. Wie kann dann aber Protest aussehen?

Während der IAA wurde es Protestierenden erheblich erschwert, überhaupt eine Meinung vor Ort - an der Messe oder den Schauplätzen in der Stadt zu äußern. Ja, man konnte auf eine Demo gehen. Aber diese war weit weg auf der Theresienwiese und sollte möglichst nicht auf der IAA bemerkt werden. Als ich nach dieser Demo mit meinem Rad über den - man muss es sagen - protzigen - Ausstellungsort am Odeonsplatz geschlendert bin, wurde ich von der Polizei aufgehalten. Meine Taschen wurden durchsucht. Meine Personalien festgestellt. Ich bin eine 57-Jährige, doch recht harmlos aussehende Frau. Ich wusste, die Polizisten machen hier nur ihren Job. Aber ich war wütend und verletzt und habe mir gedacht, wie muss es da jungen Leuten in so einem Fall gehen, die sich einsetzen für die Welt.

Aus meiner Sicht war es ein Fehler, diese höchst problematische IAA nach München zu holen, statt sich mit einer in die Zukunft gerichteten Mobilitätswende-Messe zu schmücken. Ich hoffe, dass sich die Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und der Polizei nun auch dafür einsetzen, dass diejenigen, die dagegen (zu Recht!) protestieren wollen, dies auch unbehelligt können. Dazu muss der Protest im kommenden Jahr auch an den Orten der Ausstellung möglich sein - dann müssen Protestierende sich auch nicht mehr von Autobahnbrücken abseilen, um überhaupt bemerkt zu werden.

Dr. Susanne Weiß, München

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion, sie dürfen gekürzt und in allen Ausgaben und Kanälen der Süddeutschen Zeitung , gedruckt wie digital, veröffentlicht werden, stets unter Angabe von Vor- und Nachname und dem Wohnort. Schreiben Sie Ihre Beiträge unter Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel an forum@sz.de . Bitte geben Sie für Rückfragen Ihre Adresse und Telefonnummer an. Postalisch erreichen Sie uns unter Süddeutsche Zeitung, Forum & Leserdialog, Hultschiner Str. 8, 81677 München, per Fax unter 089/2183-8530.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: