Verfassungsgerichtsurteil:Verbrechen - und Strafe?

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SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte (Foto: Michael Holtschulte (Illustration))

Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt: Niemand darf zweimal wegen derselben Tat angeklagt werden - auch nicht, wenn neue Beweise auftauchen. Bei SZ-Lesern stößt der Richterspruch auf Unverständnis.

"Rechtssicherheit vor Gerechtigkeit" und Kommentar "Mord ohne Strafe" vom 2. November:

Schwer verständliche Argumentation

Ne bis in idem. Zu Deutsch: Nicht zweimal in derselben Sache. Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes übersetzt diese bereits dem römischen Recht bekannte Garantie wie folgt: "Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden." Gemäß der nunmehr vom Bundesverfassungsgericht als nichtig erklärten "Lex Möhlmann" war die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen erlaubt, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr zum Beispiel wegen Mordes zu verurteilen ist. Die Verurteilung eines zuvor rechtskräftig Freigesprochenen bedeutet gerade nicht eine mehrmalige Bestrafung, wie sie das Grundgesetz verbietet.

Wie anscheinend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen ist, rechtfertige sich die Ausdehnung des Grundsatzes ne bis in idem über ein bloßes Verbot der Doppelbestrafung hinaus dennoch, weil stets klar gewesen sei, dass Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes nicht nur die doppelte Strafe, sondern auch die doppelte Strafverfolgung verbiete, zumal schon das Reichsgericht im 19. Jahrhundert das so gesehen habe. Eine angesichts des klaren Wortlautes und Wortsinnes dieser Bestimmung schwer verständliche Argumentation.

Niccolò Raselli, Sarnen (Schweiz)

Wortlaut des Grundgesetzes beachten

Nach dem Grundgesetz darf niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. Dort heißt es nicht, dass niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals vor Gericht gestellt werden darf, wie nun vom Bundesverfassungsgericht entgegen dem klaren Wortlaut des Artikels 103 festgelegt. Der gültige Artikel erlaubt nach einem Freispruch in einem ersten Verfahren eine Bestrafung in einem zweiten Verfahren, denn dies wäre die erste Bestrafung.

Das gültige Grundgesetz eröffnet somit die Möglichkeit, der Gerechtigkeit Priorität vor der Rechtssicherheit einzuräumen, wobei es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts wäre, die Hürden für eine Wiederaufnahme des Verfahrens hoch zu legen, sodass eine vernünftige Balance zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gegeben wäre. Auch das vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Richterrecht sollte mit dem Wortlaut des Grundgesetzes so in Einklang stehen, dass der verständige Staatsbürger auf das Grundgesetz als Rechtsquelle vertrauen kann.

Dr. Heiko Barske, Seefeld

Vorsicht, Freispruch!

Mir erscheint dieses Urteil falsch, seine Begründung unverständlich. Wieso wird jemand, der trotz dringenden Tatverdachts freigesprochen wird, möglicherweise "zweimal bestraft"? Ist ein Freispruch eine Strafe? Er wird doch dann, wenn er der Täter ist, sogar "belohnt", nämlich dafür, dass er zu der Tat geschwiegen, gelogen oder diese geleugnet hat.

Und wieso dient dieses Urteil der Rechtssicherheit? Besteht nicht vielmehr ein Maximum an Unsicherheit, wenn jemand aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden muss, obwohl gewichtige Gründe für seine Täterschaft sprechen und das Gericht massive Zweifel an seiner Unschuld hat?

Sollte man diese Unsicherheit nicht zu beheben versuchen, wenn dies mithilfe neuer Indizien oder Untersuchungsmethoden möglich ist?

Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin

Mehr "harte Wissenschaft" in der Justiz

Der diesem Richterspruch zugrunde liegende Rechtsgrundsatz "Ne bis in idem" stammt aus Zeiten, denen die DNA-Analyse ebenso fremd war wie auch andere moderne forensische Techniken, die wir den modernen Naturwissenschaften verdanken. Es nimmt nicht wunder, dass die Justiz sich dem naturwissenschaftlichen Denken verschließt, weil die Logik in der Jurisprudenz leider eine andere ist.

Daher wäre es an der Zeit, den "harten Wissenschaften" mehr Raum im Rechtswesen zu geben, in einem Fach also, das von Mehrheitsentscheidungen, Interpretationen und Hierarchien bis hin zum Europäischen Gerichtshof geprägt ist, anstatt von eindeutigen Fakten und Beweisen, wie sie in Mathematik, Physik, Biochemie üblich sind. Es wird also höchste Zeit, dass Richter und Rechtswissenschaft die Zeit der Zwölf-Tafel-Gesetze hinter sich lassen und im Hier und Heute ankommen.

Dr. Fritz Anetsberger, Landshut

Schwere der Straftat berücksichtigen

Verfassungsrichterin König erklärte, es bestehe nicht nur ein bloßes Mehrfachbestrafungs-, sondern auch ein Mehrfachverfolgungsverbot. Dies schütze auch freigesprochene Personen vor einem erneuten Verfahren. Zur Begründung verwies König auf die Willkürherrschaft des Nationalsozialismus . Damit stellt sich die Frage, ob eine solche Auslegung, die sich auf in der NS-Zeit begangenes Unrecht gegen nach heutigem Recht Unschuldige bezieht, der aktuellen Situation gerecht wird?

Wenn das Verfahren jetzt wieder aufgenommen wird, weil Beweise aufgetaucht sind, handelt es sich um den Versuch, die Tat erstmals zu bestrafen. Damit läge keine Mehrfachbestrafung und auch kein unmittelbarer Verstoß gegen Artikel 103 vor. Dass damit eine erneute Verfolgung verbunden ist, muss angesichts der Schwere der Straftat und eingedenk der heutigen Rechtslage, die sich diametral von der zitierten Ausgangslage unterscheidet, akzeptiert werden, denn die "Väter der Verfassung" hatten sicher nicht im Sinn, mangels Beweisen freigesprochene Vergewaltiger und Mörder, die ein Leben und das Leben der Angehörigen zerstört haben, dauerhaft vor Verfolgung zu schützen. Dies wurde nicht bedacht.

Diese dürfen sich nie sicher sein, dass ihre Straftat nicht mehr gesühnt wird. Darauf müssen die Opfer in einem Rechtsstaat Anspruch haben. Entsprechend ist hier gegebenenfalls der Gesetzgeber gefordert, eine klarstellende Verfassungsänderung vorzunehmen, weil es nicht sein kann, dass - einmal mehr - Täter- vor Opferschutz geht.

Heidger Brandt, Emkendorf

Arbeit von Ermittlern entwertet

Wir als Eltern, die aus eigener Erfahrung die Perspektive der Angehörigen bei einem vergleichbaren Fall haben wie dem, der Auslöser für den Richterspruch ist, erlauben uns folgende Anmerkungen: Es überzeugt nicht, wenn es notwendig ist, auf die mittelalterliche Inquisition zu verweisen bei der Begründung einer derart engen juristischen Auslegung des Artikel 103 und der damit einhergehenden Verwerfung der Berücksichtigung neuer Erkenntnisse aufgrund neuer wissenschaftlicher Ermittlungsmethoden. Mit dieser Begründung wird die akribische Arbeit von Ermittlern entwertet, die sich immer wieder durch sogenannten "Cold Cases" arbeiten, denn nach einem Freispruch ist ein Mord ein unaufgeklärtes Verbrechen, das weiter aufgeklärt werden muss.

Es wäre wünschenswert, dass die Rechte der Opfer auch so gesehen würden, wie jene "die Täter begünstigenden" formalen juristischen Grundprinzipien. Auch wenn verschiedentlich Instrumente eingeführt wurden zur Stärkung der Opferrechte und deren Angehöriger, so steht man als Opfer bei einem Prozess vor einem Verfahren und einer Institution, die einen vollkommen überfordert und bei der man, wenn man keinen guten Anwalt hat, verloren ist.

Am meisten stört jedoch die Anmaßung von Frau König, in der Urteilsbegründung zu sagen, dass das Ergebnis für die Angehörigen "schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist". Den Angehörigen hier mit "Akzeptieren" eine moralische Haltung zu oktroyieren, ist höchstrichterliche Anmaßung. Den Angehörigen bleibt lediglich ein "Hinnehmen", was etwas ganz anderes ist.

Albert und Jenny Wimmer, München

Mord verjährt nicht

Über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bin ich entsetzt. Der Artikel 103 des Grundgesetzes hat sicher seine Berechtigung bei allen anderen Straftaten. Diese verjähren ja auch. Man hat sich aber sicher auch etwas dabei gedacht, Mord nicht verjähren zu lassen. Hier muss der Grundsatz der Gerechtigkeit höher bewertet werden als die Rechtssicherheit. Unglaublich, dass das Bundesverfassungsgericht es sich anmaßt, einen möglichen Mörder ohne Strafe frei herumlaufen zu lassen.

Prof. Dr. Rainer Förderreuther, Zorneding

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