"Oft nur noch Schadensbegrenzung" vom 23./24. September sowie "Krisengebiet Schule" und Kommentar "Tatenlos" vom 11. September:
Das Seiteneinsteiger-Problem
Es gibt keine Bildungsstudie der jüngsten Zeit, in der nicht der Bildungsrückgang in Deutschland beklagt wird. Natürlich hängt das auch zusammen mit der Zahl und Qualität der Lehrkräfte, die nicht oder nur rudimentär in Pädagogik und Didaktik ausgebildet wurden. Lehramtsstudenten und die meisten Quereinsteiger erfahren wenigstens die Grundzüge des Lehrens, während die stetig wachsende Zahl von Seiteneinsteigern fast nie eine didaktische und methodische Ausbildung erfahren hat.
Um mehr qualifizierte, weil ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer zu bekommen, ist natürlich eine angemessene Bezahlung wichtig. Noch entscheidender ist aber nach meiner Erfahrung (mehr als 15 Jahre in der Studenten- und Referendarausbildung) die Arbeitszeit: Engagierte Lehrkräfte kommen locker auf 50 Wochenstunden inclusive Wochenende - und das auf Kosten der Familie. Mehr Interesse am Lehrberuf könnte man dadurch wecken, dass Lehrkräfte wirklich nur noch lehren, also ihr Kerngeschäft ausüben, zu dem auch Vorbereitung und Korrektur gehören. Zusätzlich müssen sie aber Früh-, Pausen- und Mensaaufsicht machen, überflüssige Tabellen ausfüllen, Hausaufgaben betreuen, Exkursionen organisieren, Geld, Schulaufgaben oder Rückmeldezettel einsammeln, Entschuldigungen abheften, Schulbücher auf Schäden sowie Unterschriften überprüfen und vieles andere mehr. Diesen zeitaufwendigen Verwaltungskram könnten pädagogische Hilfskräfte wie zum Beispiel in Frankreich oder Portugal übernehmen, die übrigens deutlich weniger kosten würden.
Laut Wikipedia gilt: "Ein Lehrer oder eine Lehrerin ist eine Person, die andere Personen auf einem Gebiet weiterbildet, auf dem sie selber einen Vorsprung an Können, Wissen und Erfahrung hat." Alleine dafür sollten gut ausgebildete Lehrkräfte eingesetzt werden - und für nichts anderes. Dann gäbe es endlich mehr von ihnen.
Dr. Rainer Pippig, Neuried
Bildungspolitik: Note Sechs
Ich habe heute mein Zeugnis von 1972 angeschaut. Fünf (!) Stempel "Kein Unterricht wegen Lehrermangel". Fazit: Nichts gelernt! Dieses Jahr hat meine Tochter ihr Referendariat abgebrochen wegen unzumutbarer Arbeitsbedingungen. Note Sechs für die Bildungspolitik und den Umgang mit all den jungen Menschen, denen die Freude am Beruf genommen wird, bevor sie noch richtig gestartet sind. Wenn bei der Lehrerausbildung nicht mit eisernem Besen verkrustete Strukturen ausgeräumt werden, sehe ich schwarz für die Zukunft unserer Schulen.
Susanne Busch-Zouhar, Schorndorf
Seit Jahren nur Stillstand
Selten fand ich eine konkretere und gelungenere Zusammenfassung dessen, was unseren Schulen fehlt. Aladin El-Mafaalani, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück, benennt die eklatanten Mängel unseres Schulsystems schonungslos. Und das ist gut so. Seit vielen Jahren treten wir auf der Stelle. Stillstand. Wir werden den gesellschaftlichen Herausforderungen seit Langem nicht mehr gerecht. Drei Baustellen stehen nach El-Mafaalani dafür paradigmatisch. Baustelle 1: Kindheit und Familie im Wandel. Baustelle 2: Der demografische Wandel. Baustelle 3: Die Finanzierung. Es liest sich wie eine große Abrechnung hinsichtlich des Versagens unseres Schulsystems. Und das Schlimme daran: Alles, was El-Mafaalani beklagt, trifft zu! Bildungssystem - quo vadis?
Heinz Kreiselmeyer, Ansbach
Ohne Bildungslust kein Erfolg
Kritik an der Bildungspolitik ist berechtigt, und zahllose Wünsche nach mehr Ressourcen und besseren Strukturen sind immer nachvollziehbar. Damit es aber zu einer wirklichen Bildungswende kommt, brauchen wir in unserer Gesellschaft einen massiven Mentalitätswandel, der auch Eltern sowie Kinder und Jugendliche einbezieht. Bilden kann man sich nur selbst. Es muss uns wieder gelingen, Anstrengung, Fordern, Leistungsbereitschaft in den Mittelpunkt zu stellen. In der Bildungsdebatte geht es zu sehr um Erleichterungen, Erwartungen, Fördern, günstige Rahmenbedingungen, erleichternden Service. Lernen ist anspruchsvoll und schwer, mit Grenzerfahrungen und Niederlagen verbunden. Es braucht Begabung, Motivation und die Bereitschaft, es nicht nur als Zeitvertreib oder Zertifikatserwerb zu begreifen, sondern als humanen Akt nach dem Motto "Lehrjahre sind keine Herrenjahre". Erst wenn alle Schüler und Eltern diese unbedingte Bildungslust wiederentdecken, wird sich dies auch in einer nachhaltig erfolgreichen Bildungspolitik widerspiegeln.
Thomas Gottfried, Freising
Zu kurzsichtige Bildungspolitik
Die Analyse von El-Mafaalani beschreibt und begründet treffend Missstände und Maßnahmen, die helfen können, die Schulkrise zu überwinden. Sie gehörte in jedes Parteiprogramm und jeden Koalitionsvertrag. Sie sollte im Bewusstsein jedes Abgeordneten verankert sein. Es reicht nicht, wenn sie "nur" in der SZ abgedruckt ist. Hier ist das Verantwortungsbewusstsein jedes Abgeordneten gefordert. Die Verfassung und Leistungsfähigkeit der Bildungseinrichtungen hat eine Schlüsselrolle für die langfristige Daseinsvorsorge. Sie bestimmen, wie erfolgreich unsere Gesellschaft ihr Humankapital entwickelt, der einzigen Stellschraube, mit der unsere Zukunft maßgebend zu beeinflussen ist. Sie entscheiden, wie hoch der Prozentsatz der zur Berufsausbildung befähigten Schulabgänger ist, ob wir dem sozialen Transfersystem mehr entnehmen müssen oder mehr geben können, wie viele Fachkräfte der Wirtschaft zur Verfügung stehen werden. Eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit wird nur gelingen, wenn Abgeordnete die durch das System begünstigte Beschränkung auf die laufende Legislaturperiode aufgeben und weit über deren Tellerrand hinausschauen, wenn es gelingt, die Bund-Länder-Konkurrenz zu einer Bund-Länder-Kooperation zu entwickeln, wenn das existierende Bildungsproblem nicht weiter wie eine heiße Kartoffel zwischen Bund und Ländern ergebnislos hin- und hergeschoben wird.
Politiker müssen endlich aufhören, den Schulen bei jedem Regierungswechsel neue Curricula und Systemwechsel aufzubürden, Schule neu erfinden zu wollen. Schule braucht verlässliche Stabilität, um sich ihrer eigentlichen Aufgabe zuwenden zu können. Wenn das für eine bessere, zukunftsfähigere Schule Gebotene in der Agenda der Politiker fest verankert ist, hat die Überwindung des "Krisengebietes Schule" eine Chance. Doch Politiker lieben keine "Baustellen", deren Fertigstellung in nächsten Legislaturperioden zu erreichen ist.
Hans Lafrenz, Hamburg
Spaß beim Lehren und Lernen
Wie recht sie haben, die unbequemen Mahner der Presse! In den Köpfen der Verantwortlichen, also in der Ministerialbürokratie der Kultusminister ist vor allem kurzsichtiges wirtschaftliches Effizienzdenken zu finden. Pädagogikfachleute werden von Wirtschaftsfachleuten überstimmt. Man tut geradezu so, als ob das ganze Leben nur Ökonomie sei, sogar Kultur und Bildung. Unverständlicherweise erwarten die ungeduldigen Finanzexperten gerade bei der Bildung, dass sich jede Investition direkt rentiert, sie also vor allem schnell nachvollziehbar ist. Für mehr Geschwindigkeit sollte sogar die Schulzeit (G8) verkürzt werden. Da sich diese unintelligente Erwartung bei der bekannten Ausbildungsdauer der Kinder von mindestens 10 bis 15 Jahren natürlich nicht unmittelbar erfüllen kann, geizt man mit - gleichwohl notwendigen - Investitionen, nicht nur bei den Schulgebäuden, sondern eben auch bei den Arbeitsstellen. Das hat einen katastrophal unterschätzten Einfluss auf Psyche und Motivation aller Beteiligten; so kann sich nur Frust verbreiten. Wer aber Spaß beim Lernen hat, ist erfolgreicher und hat später auch Spaß beim Arbeiten. Die Landespolitiker haben vergessen, dass eine funktionierende Wirtschaft gut ausgebildete Arbeitskräfte braucht, die lesen und rechnen können (vergleiche Iglu-Studie). Kompetenz wächst nicht von alleine auf dem Komposthaufen industrieller Gewinne. Vielmehr wird sie unter großem pädagogischen und didaktischen Aufwand erarbeitet. Diese Arbeit der Lehrer muss nicht nur angemessen bezahlt werden (Finanzminister!), sondern auch in der zuständigen Behörde realistisch und verantwortungsvoll geplant werden (Kultusminister!). Indessen hatten die Kultusministerien nie Angst vor 25 Prozent Rechtschreibschwachen und 50 000 Schulabbrechern, sondern immer vor zu vielen Lehrern. Das Geld, das zu lange bei den Lehrerstellen gespart wurde, muss jetzt in Arbeitsbeschaffungs- und andere Sozialmaßnahmen wie Nachschulungen, Fortbildung, Arbeitslosengeld und so weiter gesteckt werden, im schlimmsten Fall in psychiatrische Behandlung und in den Justizvollzug. Die Weitsicht, dass Sparen im Bildungssektor zu Mehrausgaben in anderen Bereichen führt, fehlt den tatenlosen Entscheidungsträgern, die nur das Geld zusammenhalten.
Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart
Absurder Quereinstieg
Wir, die noch Lehrer für Grund- und Hauptschule waren, mussten im Studium Pädagogik, Schulpädagogik, Psychologie und jede Menge Fächerkunde studieren (Erstlesen, Erstschreiben), dazu vom dem ersten Semester an ein Mal in der Woche ein Praxistag, an dem man selbständig Unterricht halten musste. In den Semesterferien kamen sechswöchige Praktika in Grund- und Hauptschule dazu. Wir lernten, wie man Unterrichtsstunden aufbaut, Probearbeiten erstellt und bewertet, wie man den Lehrplan in einen Wochenplan umsetzt. In allen Fächern mussten wir Prüfungen ablegen, schriftlich, mündlich, praktisch. So gerüstet, übernahmen wir nach dem ersten Staatsexamen als Lehramtsanwärter unsere Klassen, und trotzdem mussten wir noch viel dazulernen. Und heute erzählt uns der Herr Kultusminister, das bräuchte es alles nicht mehr. Leute, die irgendeinen Studienabschluss haben - zum Beispiel Maschinenbauer, Förster und so weiter - können gleich als Lehramtsanwärter einsteigen, also vollkommen ohne Vorbildung. Wie soll das funktionieren?
Wahrscheinlich so, dass die gelernte Parallelklassenkraft sämtliche Tätigkeiten wie Lehrplan, Wochenplan, Unterrichtsstundenvorbereitung, Probenerstellung und -korrektur mit übernehmen muss. Ja, was soll denn diese Person noch alles tun? Ein Lehrer hat genügend in der eigenen Klasse zu tun. Stattdessen sollte das Kultusministerium sich um bessere Bezahlung, weniger Schulstunden (29) und eine normale Aufstiegsmöglichkeit im Volksschulbereich kümmern. Dann würden auch wieder mehr junge Leute Lehramt studieren.
Hartmut Wagner, Kempten
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