Arbeitsmarkt:Wider die Überstunden

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Nicht alle schreiben auf, wie viel sie mehr gearbeitet haben, als bezahlt wird, diese Frau schon. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Eine Arbeitszeiterfassung ist nicht leicht einzuführen, das wissen auch SZ-Leser. Noch schwieriger wird es, wenn selbst der Kanzler mit schlechtem Beispiel vorangeht.

"Bin gleich fertig!" vom 30. September, "Lasst die Menschen flexibel arbeiten" vom 28. September und weitere Artikel:

Schlechtes Vorbild

Zur selben Zeit wie der Bundeskanzler war ich an Corona erkrankt. Es freut mich für ihn, dass er offenbar weniger heftige Symptome hatte als ich. Doch angesichts der Debatte um Arbeitszeiterfassung und unbezahlte Mehrarbeit finde ich es unsolidarisch von Olaf Scholz, dass er sich in seiner Dienstwohnung einschließt und öffentlichkeitswirksam den Eindruck erweckt, eine Corona-Infektion sei ideal, um liegen gebliebene Dinge aufzuarbeiten. Aus langjähriger Erfahrung als Ärztin im Krankenhaus weiß ich, dass die Arbeit nie zu schaffen ist. Solange wir uns an solchen Führungsvorbildern orientieren, werden wir das "Überstunden-Unwesen" nicht eindämmen und es schwer haben, einen vernünftigen Umgang mit der eigenen Gesundheit zu finden.

Dr. med. Caroline Wolf, Konstanz

Vor sich selbst schützen

Es ist nicht erlaubt, die tägliche Arbeitszeit von zehn Stunden zu überschreiten, Vertrauensarbeitszeit hin und her! Manche Beschäftigte müssen vielleicht vor sich selbst geschützt werden. Das zeigen die steigenden Burn-out-Zahlen. Die Arbeitszeit beginnt natürlich mit dem Hochfahren des Rechners, wann denn sonst?

Jürgen Schwan, Köln

Dauerhafte Überlastung

"Lasst die Menschen flexibel arbeiten", fordert Benedikt Peters im Hinblick auf die jüngste Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September und übersieht, dass diese Rechtslage bereits seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019 so ist. Seine Klage, Zeiterfassung verhindere flexibles Arbeiten, beschränkt sich darauf, dass es mit einer Zeiterfassung nicht mehr möglich sei, sich über das Arbeitszeitgesetz hinwegzusetzen. Das ist so überzeugend wie die Forderung, keine Blitzer an Ampelkreuzungen aufzustellen, dann könne man auch bei Rot über die Ampel fahren - der Autor hätte vielleicht formuliert "die Kreuzung flexibel nutzen".

2021 standen in Deutschland 818 Millionen geleistete und bezahlte Überstunden der Summe von 893 Millionen nicht bezahlten Überstunden gegenüber. Psychische Erkrankungen sind mit derzeit 17,1 Prozent die zweitwichtigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit in der Bundesrepublik. 2006 lag die durchschnittliche Anzahl der ausgefallenen Arbeitstage wegen Arbeitsunfähigkeit noch bei 26,6 Tagen, 2020 ist sie auf 38,3 Tage angestiegen. Das zeigt, dass etwas nicht stimmt.

Niemand kann behaupten, dies habe nichts mit ständiger Überlastung zu tun. Keiner nimmt schweren Schaden, wenn er einmal länger als zehn Stunden am Tag arbeiten muss. Die dauerhafte Überlastung muss verhindert werden. Die vom Autor angeführte Arbeit im Home-Office, bei der kein Schutz durch das Arbeitszeitgesetz mehr erforderlich sei, verhindert nicht, dass der Mensch überlastet wird, auch wenn, wie vom Autor gefordert, eine wöchentliche Höchstarbeitszeit festgeschrieben wäre.

Die Tarifvertragsparteien haben teilweise reagiert, und (etwa in der Bayerischen Metall-und Elektroindustrie) durch Tarifvertrag die Ruhezeit bei Arbeit im Home-Office von elf auf neun Stunden verkürzt. Das ist rechtmäßig und nachvollziehbar, weil sich der Arbeitnehmer den Weg zur Arbeit spart. Arbeitgeber, die sich durch Verbandsaustritt dem Tarifvertrag entziehen, können nicht von den Vorteilen einer solchen Regelung profitieren.

Krikor Seebacher, Feldkirchen-Westerham

Taube Ohren

Gleich das erste Beispiel für das "Überstunden-Unwesen" ("Für die Deutschstunde morgen fehlt noch ein knackiger Text, sagt sich die Lehrerin...") zeigt die Schwierigkeiten, die mit der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung verbunden sind: Von 1974 bis 2012 war ich im Schuldienst in Niedersachsen. Während dieser Zeit haben Lehrervertreter immer wieder gefordert, die Arbeitszeit zu reduzieren, weil nachgewiesen wurde, dass Lehrerinnen und Lehrer länger als 40 Wochenstunden arbeiten. Selten habe ich erlebt, dass Überstunden von Kultus- und Finanzminister in Form einer Arbeitszeitverkürzung oder durch Zeiterfassung berücksichtigt wurden. Wenn es Verkürzungen gab, wurden diese durch Erhöhung der Pflichtstundenzahl kurze Zeit später wieder rückgängig gemacht, oft die Arbeitszeit sogar verlängert. Natürlich ist es Beamten temporär zuzumuten, über das vereinbarte Maß hinaus zu arbeiten, ohne zusätzlich entlohnt zu werden. Doch die Mehrarbeit dauert bereits über Jahrzehnte an.

Die Arbeitszeiterfassung bei Lehrenden dürfte problematisch sein, weil ein großer Teil der Arbeit zu Hause erledigt wird. In der Schule steht oft kein Arbeitsplatz zur Verfügung. Das Problem wird zwischen Schulträgern (Kommunen und Kreise) und Land hin- und hergeschoben. Ich fürchte, das Urteil des EuGH zur Arbeitszeiterfassung wird in den Kultusministerien der Länder und bei den Kommunen auf taube Ohren stoßen; der Klageweg mithilfe von Gewerkschaften und Verbänden wird im Sande verlaufen. Die Fürsorge des Dienstherrn ist eher unterkühlt. So ist es nicht verwunderlich, wenn der Lehrermangel immer größer wird, wenn kaum noch jemand Lust hat, Lehramt zu studieren, angesichts des Risikos, nach mindestens fünf Jahren Studium wegen mangelnder Eignung oder fehlender Stellen mit leeren Händen dazustehen.

Dr. Rüdiger Lutz Klein, Göttingen

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