1971:Politisches Tagebuch

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Stets ein genauer Beobachter: der Historiker und Publizist Golo Mann auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1979. (Foto: Heinz Gebhardt/imago images)

Die Opposition und die Ostverträge: Der bloße Redner mag gegen die Machtverhältnisse sprechen, ohne einen Deut zu verändern. Der verantwortungsvolle Politiker muss mit ihnen zu Rande kommen, um etwas zu bewegen.

Von Golo Mann

Von Weihnachten 1970 bis Juli 1972 schrieb Golo Mann (1909-1994) in der SZ ein politisches Tagebuch; insgesamt elf Beiträge, in denen der berühmte Publizist, Historiker und Sohn von Thomas Mann seine Sicht auf die Weltpolitik darlegte. Eigentlich ein Konservativer, verteidigte er Brandts Ostpolitik und sprach viele unbequeme Wahrheiten oder Meinungen aus. In diesem Beitrag vom 2. Oktober 1971 mokierte er sich über wohlfeile, aber leider unrealistische Forderungen nach der Niederreißung der Berliner Mauer: "Freilich doch, wer wollte das nicht?"

In seinem neuen Buch, "Weltmacht Europa", schreibt Graf Coudenhove, Paneuropas alter Vorkämpfer, gemeinsame Außenpolitik, europäischer Bundesstaat, Staatenbund oder was immer, und europäischer Revisionismus seien unvereinbar. Was versteht er unter "Revisionismus"? Die Weigerung, bestehende Grenzen anzuerkennen. Was versteht er unter "europäischem" Revisionismus? Den deutschen, und offenbar nur den deutschen.

Coudenhoves Gedankengang ist so überzeugend wie einfach. Erstens kann eine revisionistische "Weltmacht Europa" gar nicht zustande kommen, weil Franzosen, Niederländer, Norweger und so fort nun einmal nicht den Wunsch haben, sich zu Helfern bei einem grenzüberschreitenden deutschen Abenteuer zu machen. Täten sie es aber, zweitens, wider alle Wahrscheinlichkeit dennoch, so würde "Weltmacht Europa" von den Russen nicht als ein ebenbürtiger, im Ökonomischen überlegener Nachbar angesehen werden, mit dem man sich wohl oder übel vertragen muß, sondern als Feind; wodurch der Frieden und Wohlstand und Ordnung stiftende Zweck des Unternehmens doppelt verfehlt würde. Kein Geringerer als Franz Josef Strauß hat dem Buche Coudenhoves ein lobendes Vorwort beigesteuert; hat wohl die Seiten, auf denen solches steht, zufällig gerade nicht gelesen.

Wer die Beruhigung nach Osten hin verneint, der steht der Einigung Westeuropas im Weg

Das Argument ist nicht neu, sollte aber den Menschen immer wieder eingehämmert werden, im Bundestag und außerhalb; es hat sich bei weitem noch nicht genug herumgesprochen. Ohne Gleichklang in einer so zentralen Frage gibt es keine gemeinsame Politik.

Wer die Beziehungen zwischen Moskau und Bonn, Warschau, Prag und Bonn zu normalisieren strebt, wer also im Osten tut, was Paris und London und Rom dort längst getan haben, der fördert die Einigung Westeuropas. Wer die Beruhigung nach Osten hin - und das heißt im Kern doch immer die Anerkennung sämtlicher bestehender Grenzen - verneint, der steht der Einigung Westeuropas im Weg, er mag sie mit noch so bittersüßen Klagetönen beschwören. Mich wundert's, warum man die Oppositionsführer nicht schärfer vor diesen Widerspruch stellt, sie nicht zwingt, ihn aufzulösen oder einzugestehen.

Man hat dem Bundeskanzler Opportunismus vorgeworfen, ein Sich-Beugen vor schierer Macht, bei Hintansetzung der Menschenrechte. Er hat zornig darauf reagiert, ich kann es begreifen. Die Machtverhältnisse, die Wirklichkeiten, um die es hier geht, sind keine bloß augenblicklichen. Sie sind unvergleichlich solider als jene nach 1919. Sie haben 25 Jahre gedauert, es ist mindestens so wahrscheinlich wie das Gegenteil, daß sie noch zweimal 25 Jahre dauern und Endgültiges zurücklassen werden. Daß während der ersten 25 Jahre in Europa keine Grenze auch nur um einen Meter verrückt wurde, das russische Imperium wohl allerlei erstickte oder nicht ganz erstickte Dynamik erkennen ließ in seinem Inneren, aber nicht die geringste gegen außen, ist nur ein anderes Zeichen für die Stabilität der Machtverhältnisse, auf denen es beruht. Der bloße Redner mag gegen sie reden, ohne sie um einen Deut zu verändern. Der verantwortliche Politiker muß mit ihnen zu Rande kommen; was die Erben der Deutschnationalen und National-Liberalen von ihrem Idol, Bismarck, doch lernen könnten. Geht es bei der Ausführung des Berlin-Vertrages mit rechten Dingen zu, so wird er Tausenden von Familien helfen in menschlichem Ernst, wie der Warschauer Vertrag es schon getan hat. Das ist etwas; immer habe ich die Befreiung von über 10 000 Kriegsgefangenen und die Zusammenführung von Familien dank Adenauers Besuch in Moskau für des alten Herrn schönsten Erfolg gehalten - durch eine "Anerkennung" errungen, auch er. Man wird auf mehr in kurzer Frist nicht hoffen dürfen.

Aufhebung des Schießbefehls und Niederreißung der Mauer wären praktisch dasselbe

Die Aufhebung des Schießbefehls zu fordern, macht sich sehr gut, muß aber ohne Folgen bleiben, womit ich so intelligenten Politikern wie Strauß und Barzel gewiß nichts Neues sage.

Da die DDR einmal da war, da sie, leider, so und so konstituiert war, brauchte sie die Mauer; sie wäre ohne die Mauer in hellichte Auflösung geraten, ihr wirtschaftlicher Aufstieg datiert von der Mauer. Die Mauer hätte diese Wirkung nicht, und gar keine gehabt, hätte man sie in vergleichsweiser Sicherheit überklettern können.

Aufhebung des Schießbefehls und Niederreißung der Mauer wären praktisch dasselbe. Freilich doch, wer wünschte es nicht?

Aber zu jener "mutigen und schwierigen Politik", von der Pompidou sprach, gehört es, daß sie ein Wagnis auf lange Sicht ist. Sie mag nützliche Ernte bringen in Zukunft, aber nur bescheidene im Moment. Sogar ist möglich, daß gerade innerhalb der DDR die Einparteiherrschaft zunächst noch lastender werden wird. Man fürchtet dort die Herren von der CSU gar nicht. Den "Sozialdemokratismus" fürchtet man. Um das Einfließen sozial-liberaler Gedanken im Zeichen der "Entspannung" zu verhindern, werden die Regenten der DDR alles Notwendige anordnen. Kommunisten haben noch nie gespaßt, wenn die Intaktheit ihnen gefälliger Machtstrukturen bedroht schien. Die Frage, wie lang das gehen wird, bleibt besser unbeantwortet, weil man die Antwort nicht weiß.

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