Ukraine:Ein Volk wehrt sich

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Endlich befreit: ein Kind im Dorf Jahidne, das ukrainische Truppen nach 28 Tagen zurückerobert hatten. Es gehörte zu den 350 Menschen, die vom russischen Militär als Geiseln in einem Keller eingepfercht worden waren. (Foto: Fedir Petrov)

Wie eine SZ-Korrespondentin ein Land erlebt, das in der Not zusammensteht, sich einem mörderischen Angriffskrieg widersetzt - und warum wir die Ukraine so unterschätzt haben.

Von Cathrin Kahlweit

Die alte Dame, die mit ihrer Tochter gemeinsam im Nachtzug aus Kiew Richtung Polen reist, ist untröstlich. Sie sagt kein einziges Wort, während die ereignislose, flache Landschaft der westlichen Ukraine an ihr vorbeizieht. Trinkt ihren letzten ukrainischen Kaffee, den der Schaffner in seiner winzigen Küche bereitet hatte, isst ihre letzten ukrainischen Süßigkeiten, die ihre Tochter für die lange Reise eingepackt hatte. Flüge aus der Ukraine heraus, oder auch herein, gehen seit dem 24. Februar nicht mehr, der Luftraum ist gesperrt. Wer das Land verlassen oder aber, umgekehrt, nach der Flucht aus dem Ausland in die Heimat zurückkehren will, ist tagelang in überfüllten Zügen in Viererabteilen voller Katzen, Kinder und Kofferbergen unterwegs.

Die alte Dame kommt aus Odessa. Ihre Tochter lebt in Neuseeland. "Ich bin den ganzen Weg geflogen, um meine Mutter zu retten", sagt sie. Auf die Hafenstadt am Schwarzen Meer, eines der ultimativen Ziele des russischen Angriffskrieges, fallen fast täglich russische Bomben. Auch wenn Putins Armee die Stadt bis heute nicht einnehmen konnte, auch wenn der Hafen - nach wochenlangen Verhandlungen -, zumindest für ukrainische Frachtschiffe, die Getreide über das Meer transportieren, wieder teilweise geöffnet wurde, auch wenn das Leben nach Monaten der extremen Anspannung scheinbar fast wieder normal geworden war: Odessa ist eine Stadt nicht nur unter militärischer Bedrohung und unter Beschuss, sondern auch unter seelischer Belagerung.

Fast stündlich dröhne der Luftalarm über die Dächer hinweg, sagt die Tochter aus Neuseeland, viele Monate lang habe ihre alte Mutter jede Nacht im Schutzkeller verbracht - aus Angst vor der einen, der schicksalhaften Minute, in der eine Rakete auf ihr Haus fällt, in ihre Wohnung einschlägt, ihr Leben zerstört. Ihre Mutter sei fast irre geworden vor Erschöpfung.

"Es ist ein Verbrechen", sagt eine 83-Jährige, die im Zug sitzt wie in Schockstarre

Die 83-Jährige sitzt im Zug wie in Schockstarre. Einen einzigen Satz, bestehend aus vier Worten, hat sie von ihrer Tochter auf Englisch gelernt. Er enthält alles, was den Krieg beschreibt, alles, was sie in diesem Moment ausmacht, alles was wahr ist: "It is a crime." Es ist ein Verbrechen.

Am 24. Februar hatte die russische Armee von der Krim, aus den Separatistengebieten des Donbass und vom Norden, aus Belarus, ein Land angegriffen, das vorbereitet und doch nicht vorbereitet gewesen war. Die Ukraine befindet sich bereits seit 2014 de facto mit der Russischen Föderation im Krieg; seit acht Jahren bereits wird im Osten gekämpft, die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hatten im Sommer 2014 in Scheinreferenden ihre Abspaltung von der Ukraine erklärt, Russland hatte die Krim annektiert. Etwa zehntausend Tote hat all das gekostet, Hunderttausende waren bereits vertrieben worden.

Man war also in Kiew für das nächste Verbrechen gerüstet, die Armee war modernisiert worden. Aber würde Wladimir Putin, der über Monate hinweg mehr als hunderttausend Soldaten an der Ost- und Nordgrenze der Ukraine zusammengezogen hatte, wirklich im großen Maßstab zuschlagen? Der US-Geheimdienst mahnte schon Wochen zuvor: Ja, er wird. Europäische Regierungen winkten ab, Putin bluffe nur.

Im Kiewer Regierungsviertel wusste man: Putin macht Ernst

In Kiew, das weiß man heute aus zahlreichen Medienberichten und einer monatelangen Recherche der Washington Post, war man nicht nur gewarnt, sondern auch darauf eingestellt, dass Putin sehr wohl angreifen würde. Auch wenn Präsident Wolodimir Selenskij, um Panik in der Bevölkerung zu vermeiden, den Eindruck erweckte, Putins Krieg werde nicht stattfinden. Ein Absturz der Wirtschaft und eine rasante Kapitalflucht sollten verhindert werden. Im Kiewer Regierungsviertel wusste man jedoch: Der Mann im Kreml macht Ernst. Und wenn nicht am 24. Februar, wie die Amerikaner vorausgesagt hatten, dann doch bald darauf.

Und doch gab es zu Beginn dieses Krieges, der nicht nur Russland in eine tiefe innere Krise stürzen, sondern zugleich die ganze Volatilität der internationalen Sicherheitsarchitektur bloßlegte, mehrere große Fehlkalkulationen - die jeder, der die Ukraine gut kennt, als solche vorausgesagt und beschrieben hätte, lange bevor Wladimir Putin seinen Marschbefehl gab. Die ukrainische Gesellschaft verfiel zum einen nicht, wie erwartet, in Panik. Auch wenn in den ersten Tagen nach dem Angriff Straßen und Züge nach Westen überfüllt und erst Hunderttausende, schließlich zeitweilig bis zu einem Viertel der Bevölkerung im In- oder Ausland auf der Flucht waren.

Aber die Zivilgesellschaft hatte in zwei Revolutionen, der Orangefarbenen Revolution von 2004 sowie der Revolution der Würde 2013/14, im Westen schlicht "Euromaidan" genannt, gelernt, wie man widersteht. Wie man sich organisiert. Wie man einen schwachen, korrupten, ineffizienten Staat ersetzt. Und im Vertrauen auf eine gemeinsame Sache, ein gemeinsames Ziel schnell und solidarisch agiert. Wie all das, was die Regierung, die Oligarchen, die regionalen Behörden nicht schaffen, bewerkstelligt werden kann, bewerkstelligt werden muss. Weil es niemand anderer tut.

Dass die Ukraine, acht Monate nach Kriegsbeginn, da steht, wo sie steht, dass die Armee bis Ende September große Teile des von Russland besetzten Gebiets im Nordosten zurückerobern konnte, dass sie weit besser ausgerüstet ist als die russische, dass es keine neue, dramatische, flächendeckende Armut gibt, dass Millionen Binnenflüchtlinge versorgt werden, das ist maßgeblich mit westlicher Militärhilfe und westlichen Finanzmitteln bewerkstelligt worden. Aber es ist eben auch der Erfolg einer Gesellschaft, in der man sich vom Maidan-Aufstand kennt und in der Bewältigung eines Krisenalltags geübt ist.

Wenn wir uns nicht selbst helfen, tut es niemand

In der Ukraine gilt ein Glaubenssatz, der sich fundamental von der Lebensphilosophie im Westen unterscheidet: Was einst die Montagsdemonstrationen in der DDR beseelte und was heute die extreme Rechte nachbrüllt, "Wir sind das Volk" nämlich, das ist in der Ukraine selbstverständlich. Eher ungewöhnlich ist eine zweite Überzeugung, welche die Ukraine ausmacht: "Wir sind der Staat." Wenn wir uns nicht selbst helfen, tut es niemand.

Das zweite Missverständnis, das sich im Westen seit vielen Jahren hartnäckig hält, ist jenes, dass ein endemisch korrupter Staat, dessen Parlament ebenso von Oligarchen gekauft war wie die Justiz und dessen Wirtschaft von ein paar Dutzend gierigen Monopolisten dominiert wurde, sich nicht verändern und in einem Krieg gegen den großen Nachbarn Russland nicht standhalten könne. Vielleicht ist Präsident Wolodimir Selenskij mit seinem legendären, in vielen unterschiedlichen Versionen paraphrasierte und wiederholte Satz "I need weapons, I don't need a ride", deshalb eine der größten Überraschungen gewesen: Ich brauche Waffen, keine Wegfahrgelegenheit (ins sichere Ausland).

Der Präsident, der blieb: Wolodimir Selenskij (rechts) bei einem Briefing des ukrainischen Militärs in Krywyj Rih, in der Nähe der Front. (Foto: Ukraine Presidency/IMAGO)

Viele Ukrainer, die ihn nicht gewählt und ihm aufgrund seiner Kontakte zu Oligarchen als Politiker nicht getraut hatten, berichten heute übereinstimmend, dass ihr Vertrauen in den Kriegspräsidenten und seine Regierung an jenem Tag ins Unendliche gewachsen sei, als Selenskij gemeinsam mit seinen engsten Mitarbeitern, während russische Truppen auf Kiew vorrückten, im Morgengrauen ein Video aufnahm. Er sei hier, sagte er in seinem tarngrünen T-Shirt, der Verteidigungsminister sei hier, der Ministerpräsident sei hier, der Generalstabschef sei hier, alle seien hier, und sie gingen auch nicht weg.

Wird es irgendwann einen "Churchill-Moment" geben?

Da stand ein anderer Führer als Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch mit seinen gestohlenen Millionen, der sich am Tag nach dem Tod von hundert Menschen auf dem Maidan im Februar 2014 eilig nach Moskau absetzte. Selenskij hat sich nun die Hochachtung seiner skeptischen Bevölkerung in dieser existenziellen Krise erarbeitet, und mit ihm sein Kabinett und die Armeeführung.

Ob er, wenn der Krieg vorbei ist, wiedergewählt wird - oder ob er in einem sogenannten "Churchill-Moment" als erfolgreicher Kriegspräsident gleichwohl durch einen Friedenspräsidenten abgelöst wird, bleibt abzuwarten (Churchill, Sieger über Hitler, verlor wenige Wochen nach Kriegsende 1945 die Wahlen in Großbritannien). Nach dem Krieg wird auch untersucht werden müssen, ob die - mit Verweis auf den Krieg und das Kriegsrecht erfolgte - Zentralisierung und Verstaatlichung ganzer Wirtschaftsbereiche vorwiegend zur Bereicherung Einzelner genutzt wurde. Ob die Zensur im Medienbereich zur dauerhaften Einschränkung der Pressefreiheit geführt hat. Und ob die ukrainischen Oligarchen, die, zumindest rhetorisch, im Krieg plötzlich alle zu glühenden Patrioten geworden sind, tatsächlich entmachtet sind.

Einige Oligarchen haben die Verfügungsgewalt über ihre Medien, ihre Fabriken jetzt scheinbar freiwillig an den Staat übertragen. Das "De-Oligarchisierungsgesetz" aus dem Herbst 2021, auf Druck der EU formuliert, war in den Augen der meisten Kritiker zahnlos und vage gewesen. Nun hat der Krieg die De-Oligarchisierung beschleunigt, weil Milliardenwerte schlicht vernichtet oder beschlagnahmt wurden. Es sei unwahrscheinlich, heißt es in Kiew, dass nach dem Krieg die Korruption im gleichen Maße wie vor dem russischen Überfall zurückkehren werde. Wunschdenken, vielleicht, aber nicht ausgeschlossen.

Russlands überschätzte Armee erreicht nicht einmal minimale Kriegsziele

Aber das sind Fragen für die Zeit nach dem Krieg. Derzeit jedenfalls stellt eine notorisch staatskritische Gesellschaft nach Jahrzehnten der Enttäuschung zum ersten Mal fest, dass mit der Staatsführung zusammengearbeitet werden kann.

Die dritte Fehlkalkulation, welcher der Westen vermutlich stärker erlegen war als die Ukrainer selbst, ist die Überschätzung der russischen Armee und der Resilienz des Moskauer Apparats im Angesicht der selbst verursachten Weltkrise. Militärexperten analysieren mittlerweile im Detail und oft mit Genugtuung, warum die Kreml-Truppen Kiew nicht einnehmen, warum sie nicht einmal die minimalen Kriegsziele, die Besetzung des gesamten Landes östlich des Dnjepr, erreichen konnten. Die Ansetzung von Pseudoreferenden in nur teilweise erobertem Gebiet, die Drohung mit Atomwaffen, der Kauf von militärischem Material in Nordkorea oder Iran, die hohen Opferzahlen in der russischen Truppe, die niedrige Moral dort, die Zwangsrekrutierungen werden als Beweise dafür angeführt, dass man in Moskau keinen Plan - und dann noch die falschen Mittel hatte.

Wer sich in der ukrainischen Gesellschaft umhört, wird allerdings feststellen, dass das Erstaunen über die eigenen militärischen Erfolge gering ist. Erfahrung aus acht Jahren Krieg im Donbass, eine im Westen geschulte Armeeführung mit flachen Hierarchien und modernen strategischen Ansätzen - das ist ein Grund, warum die Siegeszuversicht im Land groß ist, zu groß vielleicht für das, was noch kommen mag. Aber: Die Ukraine, davon sind ihre Bürger überzeugt, hat sich mit diesem Krieg, den sie nicht wollte, schon jetzt in die Geschichte eingeschrieben.

Eine junge Frau im Zug will nach Rom: Urlaub vom Krieg

Für die postsowjetische, russische Gesellschaft unter Boris Jelzin und später Wladimir Putin hingegen haben viele Zentral- und Westukrainer nur Verachtung übrig - und das nicht erst seit dem Krieg, der den Hass auf alles Russische noch einmal drastisch verschärft hat. Selbst im Osten, selbst in Familien mit russischen Wurzeln oder russischen Verwandten, selbst da, wo traditionell überwiegend russisch gesprochen wurde, hat der Stolz auf die eigene, die ukrainische Identität und das gemeinsam Errungene in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen.

Zurück in den Nachtzug von Kiew nach Chełm auf der polnischen Seite der Grenze: Im selben Zugabteil wie die alte Dame aus Odessa und ihre nach Neuseeland ausgewanderte Tochter sitzt eine junge Frau aus Kiew. Sie hatte ihren Job in einer IT-Firma wegen des Krieges, der Umsätze einbrechen und Personal abwandern ließ, verloren. Nun engagiert sie sich in einer Initiative, die Geld für die Entminung befreiter ukrainischer Dörfer entlang der Front sammelt. Sie ist auf dem Weg nach Rom, aber nicht auf der Flucht. Monatelang, erzählt sie, habe sie für das Projekt Spenden und Minenräumgerät organisiert. Jetzt mache sie eine Woche Urlaub. Urlaub vom Krieg, um Zeit für sich zu haben, Kraft zu tanken. In sieben Tagen, sagt sie, werde sie zurückkehren. Und weitermachen: "Was denn sonst?"

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