Der schmuddelige Winter taucht die Gegend in schnödes Grau. Doch spätestens ab März wird es hier wieder kunterbunt. Dafür sorgen schon hinter tiefgrünen Hecken Obstbäume, Blumen- und Gemüsebeete oder auch nur die akribisch angelegten Rasenflächen. Entlang der Heinersdorfer Straße aber, die die Berliner Ortsteile Blankenburg und Weißensee miteinander verbindet, findet man auch das: "Fallen hier Gärten und Bäume, zerstört ihr Lebensträume!", steht in großen Lettern auf einem weißen, schon arg verwitterten Laken, das an einem Gartenzaun festgezurrt ist. Gleich daneben kann man lesen: "Wir kämpfen hier fürs Klima, unsere Gärten, die sind prima." Zwei Beispiele von "Protestlyrik", mit der Gärtner und Siedler entlang der viel befahrenen Ausfallstraße für den Erhalt von Deutschlands größter Erholungsanlage kämpfen. Und das gefühlt seit einer Ewigkeit.
Schon vor mehr als 20 Jahren geisterten erste Pläne und Gerüchte durch die 84 Hektar große Anlage, auf der bis zu 5000 Menschen ihr "Fleckchen Grün" pflegen und hegen und sich dabei vom Alltagsstress erholen. Ines Landgraf, die Vorsitzende des Vereins Garten- und Siedlerfreunde Anlage Blankenburg, hat Zahlen und Fakten parat. "Gegründet wurde die Anlage schon 1909", sagt Landgraf. Damit gehöre man zu den ältesten Anlagen in Berlin. "Mit den Jahrzehnten sind wir immer größer geworden", sagt die Vorsitzende. Das Besondere dabei ist: In der Blankenburger Anlage wird auf 400 Parzellen - im Schnitt sind diese 600 Quadratmeter groß - dauerhaft gewohnt, in um- oder neugebauten Häusern und Häuschen. Weitere 1000 Pächter wiederum nutzen ihre Gärten und Lauben nur als Wochenend-Domizil. "Wir sind keine Kleingartenanlage, sondern eine Mischsiedlung und haben den Status einer Erholungsanlage", erklärt Landgraf, die selbst seit einigen Jahren in ihrem sorgsam renovierten Haus zwischen Holunderbüschen und Apfelbäumen wohnt und lebt.
Doch der rechtliche Sonderstatus, den auch weitere sieben Anlagen in Pankow für sich in Anspruch nehmen können, hat den Siedlern und Pächtern wenig geholfen, als es auch um die Zukunft ihrer Anlage ging. Anfang März 2018 wurde aus den Gerüchten Gewissheit. Damals bekam Landgrafs Siedlerverband Zugriff auf Unterlagen, in denen die gesamte Anlage infrage gestellt wurde. Man wusste zwar schon vorher von den Plänen des Senats, auf einem "benachbarten", 70 Hektar großen Rieselfeld 6000 Wohneinheiten zu bauen, doch nun war von weiteren 4000 Wohnungen die Rede. Und davon wären dann auch viele der 1400 uralten Gartenparzellen betroffen gewesen. "Seit dieser Zeit kämpfen wir gemeinsam um jedes Stück Land", sagt Ines Landgraf, die inzwischen auf den einen oder anderen Zwischenerfolg verweisen kann. Das grundsätzliche Problem aber ist für die Siedler und Gärtner noch längst nicht vom Tisch. Zwar ist nun von den 4000 zusätzlichen Wohnungen keine Rede mehr, doch die verbliebenen 6000 Wohneinheiten benötigen eine leistungsfähige Verkehrsanbindung. So ist unter anderem geplant, eine Tramlinie vom Alexanderplatz in der City bis zum S-Bahnhof Blankenburg zu verlängern. "Die 40 Meter breite Schneise dafür geht mitten durch unsere Siedlung", sagt Landgraf. "Allein dafür müssten mindestens 200 Grundstücke weichen." Ihr Verband hat Alternativen dazu vorgeschlagen und gleichzeitig auch gefordert, eine Lösung für die inzwischen völlig überlastete Ausfallstraße entlang der Anlage zu erarbeiten. Doch was am Ende wo und wie gebaut wird, ist noch völlig offen. "Im Februar 2021 gibt es eine Informationsveranstaltung zum Stand der Planung", sagt Ines Landgraf und zuckt mit den Achseln. "Entscheiden aber wird der Senat frühestens im Herbst", sagt sie. "Erst einmal müssen Ende September die Wahlen in Berlin vorbeigehen."
Bis zum Ende des Jahrzehnts werden nach vorläufigen Prognosen knapp 200 000 neue Wohnungen benötigt
Ob Erholungsanlage oder Kleingartensiedlung, die grünen Oasen in der verdichteten Großstadt Berlin geraten mehr und mehr unter Druck. Denn dort, wo heute noch fleißig gegärtnert wird, könnte auch dringend benötigter Wohnraum entstehen. Und darüber hinaus könnte auch die dazu nötige Infrastruktur wie etwa Straßen, Schulen, Turnhallen, Kitas, Polikliniken oder Krankenhäuser gebaut werden. Damit aber stehen nun in der ganzen Stadt Kleingartenanlagen zur Disposition. Denn nichts ist in der schnell wachsenden Hauptstadt so begehrt wie Bauland. Schließlich werden bis zum Ende des Jahrzehnts nach vorläufigen Prognosen knapp 200 000 neue Wohnungen benötigt. Und damit wird jeder noch verfügbare Quadratmeter immer teurer. Die Preise für Bauland sind in den vergangenen Jahren explodiert und liegen nach Berechnungen der Berliner Baukammer mittlerweile zwischen 3000 und 5000 Euro pro Quadratmeter. Das bringt Kammer-Vorstand Christian Müller zufolge die kommunalen Wohnungsgesellschaften an ihre finanziellen Grenzen. Der Ingenieur sieht einen Ausweg aus dem Dilemma, wenn es gelänge, Kleingartenflächen in Bauland umzuwidmen. "Schrebergärten okkupieren wertvolles Bauland", ist Müller überzeugt.
Berlin hat eigentlich noch genügend Kleingärten - beinahe 71 000 Parzellen in fast 880 Siedlungen. Sie beanspruchen etwa 2 900 Hektar und damit circa 3,3 Prozent der Stadtfläche. Keine andere europäische Millionenstadt verfüge über so eine große Vielfalt an nutzbaren Gärten, heißt es im aktuellen Kleingartenentwicklungsplan (KEP), der seit April 2020 im Abgeordnetenhaus von Berlin zur Beschlussfassung vor sich hin dämmert. Der Plan, mit dem Flächen der Laubenpieper und Dauerbewohner gesichert werden sollen, ist selbst in der rot-rot-grünen Koalition umstritten. Sozialdemokraten und Linke wollen einen größeren Schutz für Kleingärten und lehnen das vorliegende Papier rundweg ab. Darum auch ist die eigentlich für Mitte November 2020 geplante Verabschiedung des KEP im Ausschuss für Stadtentwicklung und Wohnen erneut verschoben worden.
Schon seit 2014 werden Teile des Kleingarten-Bestands mit immer neuen Schutzfristen versehen, die den Gärtnern und Siedlern aber keine nachhaltige Sicherheit gebracht haben. Auch im neuen Entwicklungsplan wird für zehn Prozent der Parzellen kein dauerhafter Schutz ausgewiesen, sondern nur eine weitere Fristverlängerung bis 2030. Der KEP weist mehr als 95 Prozent der Anlagen die höchste beziehungsweise eine hohe Schutzwürdigkeitsklasse zu, weil sie einen nicht ersetzbaren Beitrag für das Stadtklima leisten, sie Kühlung, Versickerung und Verdunstung fördern oder eine große Artenvielfalt aufweisen, wie auch Ines Landgraf gern betont: "Wir haben Igel, Waschbären, Rehe, Füchse, diverse Fledermausarten, Singvögel und sogar den Eisvogel bei uns."
Keine Frage, die Kolonien sind biodiverse Inseln, die helfen, das Insektensterben einzudämmen, und Frischluftschneisen in die mehr und mehr verdichtete und versiegelte Stadt schlagen. Und sie sind Rückzugsorte für gestresste Berliner, die auf ihren Schollen gärtnern und sich gesund halten oder nur in den Kolonien spazieren gehen. Darum übersteigt auch die Nachfrage nach Kleingärten bei Weitem das verfügbare Angebot. Die Anlagen sind komplett ausgebucht. Nach Schätzungen liegen in den Kolonien etwa 14 000 Bewerbungen auf einen Garten vor, es werden aber gerade mal gut 3000 Pächterwechsel pro Jahr registriert.
Wegfallende Flächen sollen durch neue Anlagen mit kleineren Parzellen ersetzt werden
Eine riesige Nachfrage und ein wichtiger Faktor für eine gesunde Stadtökologie - und trotzdem steht mit dem neuen KEP ein Fünftel der Gärten zur Disposition. Und sicher ist schon jetzt, dass in einem ersten Schritt mehr als 350 landeseigene Parzellen dem Wohnungs- und Infrastrukturbau weichen müssen. Kleingarten-Lobbyisten wie der Präsident des Landesverbandes Berlin der Gartenfreunde, Michael Matthei, sehen in dem Kleingartenentwicklungsplan kein Schutzinstrument für die Mitglieder. Der vorliegende KEP sei höchstens temporär für die Behörde verbindlich, mit einer neuen Regierung stünde alles wieder erneut zur Disposition.
Wie auch immer, Stadtobere aber auch Kleingärtner befinden sich in einer schwierigen Gemengelage. Berlin hat sich das Ziel gestellt, trotz wachsender Bauleistungen bei der Flächenneuversiegelung spätestens 2030 keinen weiteren Anteilszuwachs zuzulassen. Über den Weg dahin aber sind sich beide Seiten längst nicht einig. Der Senat will die Anlagen neu strukturieren, wegfallende Flächen sollen durch neu strukturierte Anlagen, die über kleinere Parzellen verfügen, ersetzt werden. Zugleich wird die wohnortnahe Versorgung mit Grün nun in vielen Fällen infrage gestellt. Denn Ersatzflächen finden sich nur am Rande der Stadt und nicht mehr mittendrin, was besonders alte und kranke Menschen trifft - das Durchschnittsalter der Pächter liegt derzeit bei knapp 60 Jahren. Sie würden dann nicht mehr zu ihrem Garten "um die Ecke" gelangen können. Andere Pläne wiederum sehen vor, neben der angedachten Flächenreduzierung auf nur noch 250 Quadratmetern ein Art Garten-Sharing einzuführen - ein gemeinschaftliches Gärtnern, wie es das unter jungen Leuten in Berlin längst schon gibt. "Man sollte den Kleingartenentwicklungsplan nicht gering schätzen", fordert Umweltstaatssekretär Stefan Tidow (Grüne). Er sei ein "Kraftakt" gewesen und bedürfe nun der Zustimmung aller Beteiligten und Betroffenen. Die aber sind sich erst in einem Punkt wirklich einig: Auch seine Durchsetzung wird beiden Seiten jede Menge Kraft und mindestens genauso viel Kompromisse abverlangen.