Überstunden:Ich bleibe noch

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Alles schläft, einer wacht ... (Foto: Kai Jabs/Mauritius)

Viele Menschen arbeiten mehr als sie müssen - und bekommen dafür bestenfalls ein Schulterklopfen. Wann kann man die Bezahlung von Überstunden einfordern?

Von Ina Reinsch

Rund 400 unbezahlte Überstunden in einem Jahr - das ist die Bilanz, die Marcus Wyczorek als Assistenzarzt in einem süddeutschen Krankenhaus zieht. "Eine Zeiterfassung gibt es in unserer Klinik nicht, 50-Stunden-Wochen sind völlig normal", sagte er. "Die Überstunden werden weder ausbezahlt noch ausgeglichen, denn offiziell existieren sie nicht."

Wyczorek, der in Wirklichkeit anders heißt, bekam vom Chefarzt zu hören, als Anfänger brauche man halt länger, das könne man ja nicht der Klinik in Rechnung stellen. Doch auch alte Hasen arbeiteten zu viel. Wyczorek begann, die Mehrarbeit privat zu dokumentieren. Als sein Chef das mitbekam, reagierte er erst mit Zynismus: "Überstunden sind kostenlose Weiterbildung." Dann mit Drohung: "Klagen Sie doch, wenn Sie sich trauen."

Der Fall ist nur einer von vielen. Immer wieder kommt es beim Thema Überstunden zum Streit. Laut einer Statistik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung leisteten im Jahr 2015 deutsche Arbeitnehmer 1,7 Milliarden Überstunden. Nicht einmal jede zweite wurde vergütet. 940 Millionen Stunden erbrachten die Mitarbeiter für lau. Die Zahlen zeigen, wie groß das Konfliktpotenzial ist.

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Wer Überstunden zählen will, muss zunächst wissen, wie viel er arbeiten muss. Denn: "Unter Überstunden versteht man die über die arbeits- oder tarifvertraglich geregelte oder per Betriebsvereinbarung geltende Arbeitszeit hinaus geleisteten Arbeitsstunden", erklärt Pia Alexa Becker, Arbeitsrechtlerin in München. Was viele nicht wissen: Eine generelle Pflicht zur Leistung von Überstunden gibt es nicht.

"Überstunden muss der Mitarbeiter nur dann machen, wenn er laut Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder anwendbarem Tarifvertrag dazu verpflichtet ist", sagt Timo Hufnagel, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Frankfurt am Main. Schweigen sich die Verträge dazu aus, muss der Arbeitnehmer keine Überstunden leisten. Nur in Notsituationen wie etwa einem Brand im Betrieb kann der Chef seine Leute ausnahmsweise auch ohne entsprechende Klausel zur Zusatzarbeit heranziehen. Hufnagel: "Ein Großauftrag reicht dazu aber nicht aus."

Der Chef muss abwägen

Ordnet der Vorgesetzte am Nachmittag an: "Frau Müller, sie müssen heute länger bleiben, der Vorstand wartet auf den Bericht", hat das arbeitsrechtliche Relevanz. Denn der Vorgesetzte weist Überstunden über sein Direktionsrecht an. Becker: "Der Arbeitgeber muss dabei abwägen, wie groß sein Bedürfnis danach ist, dass die Arbeit jetzt erledigt wird, und wie groß das Interesse des Arbeitnehmers, nur so viele Stunden zu arbeiten, wie im Vertrag stehen. Das ist immer eine Frage des Einzelfalls."

Hat der Chef die Wahl zwischen mehreren Mitarbeitern, muss er abwägen. "Dabei muss er auf soziale Aspekte achten, aber auch auf eventuelle Spezialkenntnisse einzelner Kollegen, die zur Erfüllung der Aufgabe wichtig sind", sagt die Fachanwältin für Arbeitsrecht. Damit der Betroffene sich auf die zusätzliche Arbeit einstellen kann, muss der Chef die Überstunden zudem rechtzeitig ankündigen. "Eine generelle Frist gibt es aber nicht", sagt Becker.

Der Mitarbeiter kann sich allerdings weigern: "Und zwar dann, wenn die Arbeitszeit über das gesetzlich zulässige Maß hinausgeht", so Hufnagel. Zulässig sind nach dem Arbeitszeitgesetz werktäglich acht Stunden. Die Arbeitszeit kann auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, wenn es innerhalb von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen im Durchschnitt bei acht Stunden werktäglich bleibt. Einige Arbeitnehmergruppen müssen allerdings keine Überstunden machen, wenn sie damit die gesetzlich zulässige Regelarbeitszeit von acht Stunden überschreiten würden. "Dazu zählen Schwangere, stillende Mütter, Jugendliche und auf Verlangen auch Schwerbehinderte", sagt er.

Und wenn's mal wieder länger dauert und die Kita schließt? "Diesen Umstand muss der Arbeitgeber eigentlich im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigen", sagt Hufnagel. Wichtig sei, dass er die Überstunden frühzeitig, wenigstens einen Tag vorher, ankündigt, damit sich der Arbeitnehmer darauf einstellen kann. "Ordnet er die Überstunden trotzdem kurzfristig an, ist der Arbeitnehmer in einer schwierigen Situation. Weigert er sich, wird der Arbeitgeber vielleicht mit einer Abmahnung reagieren", warnt der Jurist. Auf der anderen Seite kann er seine Kinder schlecht vor der Kita stehen lassen. Sollte es wirklich zum Streit kommen, würden hier die Gerichte aber sehr wahrscheinlich pro Arbeitnehmer entscheiden.

Die Richter sind in der Praxis allerdings eher mit der Frage beschäftigt, ob der Arbeitgeber die Zusatzarbeit auch bezahlen muss. "Einen allgemeinen Rechtssatz, dass Überstunden zu bezahlen sind, gibt es nicht", stellt Benjamin Biere klar, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Frankfurt. Sieht allerdings der Arbeitsvertrag oder der anwendbare Tarifvertrag die Bezahlung vor, muss der Chef Geld lockermachen.

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Existiert keine Regelung, wird es kompliziert. Die Vergütungspflicht richtet sich laut Biere nämlich danach, ob der Mitarbeiter eine Bezahlung den Umständen nach erwarten durfte. Um diese etwas schwammige Formulierung im Gesetz zu konkretisieren, stellt das Bundesarbeitsgericht (BAG) unter anderem auf die Höhe des Verdienstes ab. "Bei Arbeitnehmern, deren Gehalt die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung übersteigt (6350 Euro West und 5700 Euro Ost pro Monat), geht das BAG davon aus, dass eine gesonderte Vergütung nicht zu erwarten ist", erklärt der Anwalt.

Arbeitnehmer, die weniger verdienen, müssten dagegen grundsätzlich für Überstunden bezahlt werden. Und zwar mit dem üblichen Stundenlohn. Wer sich nun freut, sollte allerdings noch einen Blick in den Arbeits- oder Tarifvertrag werfen. Häufig finden sich dort nämlich sogenannte Pauschalierungsklauseln. Sie besagen, dass eine bestimmte Anzahl an Überstunden bereits mit dem normalen Monatslohn bezahlt sein soll.

Die Klauseln haben jedoch ihre Tücken. So ist etwa die Formulierung "Erforderliche Überstunden sind mit dem Monatsgehalt abgegolten" laut BAG unwirksam, da sie nicht transparent ist. Eine konkrete, gerade noch zulässige Stundenzahl nennen die Richter allerdings nicht. "Eine Klausel, die vorsieht, dass bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden fünf bis zehn Stunden pro Woche in der vereinbarten Vergütung mit enthalten sind, sollte aber zulässig sein", sagt Biere.

Beschäftigte, die mit dem Chef immer wieder über zusätzliche Arbeit streiten, rät Biere, Überstunden genau zu dokumentieren. "Der Arbeitnehmer ist für die Überstunden voll beweispflichtig. Das heißt, er muss für jede einzelne Stunde darlegen und beweisen, wann er sie geleistet hat und dass sie vom Arbeitgeber angeordnet war beziehungsweise geduldet wurde." Biere empfiehlt daher, Datum, Uhrzeit und Tätigkeit zu notieren und die Aufstellung jeden Monat vom Chef abzeichnen zulassen.

Auch der Mediziner Wyczorek konnte im Streit um seine Überstunden einen Erfolg verbuchen. Nach Einschaltung der Ärztegewerkschaft Marburger Bund lenkte sein Arbeitgeber ein. Einen Teil der Überstunden zahlte das Krankenhaus aus, den anderen Teil konnte er abfeiern. Im Frühsommer wechselt er als angestellter Arzt in eine Praxis - mit geregelter Arbeitszeit.

© SZ vom 04.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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