Arbeitszeit:Weg mit der Uhr

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Wie viele Stunden wollen wir arbeiten? (Foto: Lisa Bucher)

Die Zukunft der Arbeitswelt liegt nicht in der 40-Stunden-Woche, sondern in flexiblen Modellen. Es reicht aber nicht, wenn der Wandel auf Firmenebene stattfindet. Die ganze Gesellschaft muss mitziehen.

Essay von Lea Hampel

Wer beim Wandel der Arbeitswelt mithalten will, kommt an flexiblen Arbeitszeiten nicht vorbei." Es ist der zentrale Satz im neuen Arbeitszeitreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, und kurz denkt man an den kanadischen Premierminister Justin Trudeau und möchte rufen: "Es ist 2016!" Denn dass das die zentrale Aussage eines solchen Reports ist, ist ungefähr so absonderlich und trotzdem offenbar nötig wie Trudeaus Aussage, als er vergangenes Jahr sein neues Kabinett vorstellte. Damals musste er darauf antworten, warum es ihm wichtig sei, dass in seinem Kabinett genau so viel Männer wie Frauen säßen. Er überlegte wenige Sekunden, sagte "weil 2015 ist" und erntete furiosen Applaus.

Manche Dinge müssen offenbar ziemlich oft gesagt werden, bis sich Grundlegendes ändert. Denn die Debatte um flexible Arbeitszeiten geht schon lange: Eine 30-Stunden-Woche etwa wurde schon in den 30er-Jahren thematisiert. Und doch, so zeigt es der Report, hat mehr als die Hälfte der Beschäftigten fest vorgeschriebene Zeiten, wann sie wo arbeiten sollen. Und nach wie vor gilt eine Welt, in der jeder so arbeitet, wie es zu seiner Lebenssituation passt, noch als unrealistische Wunschvorstellung junger Kreativer aus Berlin-Mitte oder von Müttern, die lieber Muffins backen als Meetings besuchen. Zu weit weg scheint sie vom Alltag in staatlichen Institutionen, in denen eine Stechuhr hängt, und von Mittelstandsunternehmen, in denen Mitarbeiter viertelstundenweise ihren Arbeitstag in Tabellen protokollieren.

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Die Welt, in der Frauen "dazuverdienen", ist offenbar sehr bequem

Tatsächlich mögen einige Argumente gegen flexible Arbeitszeitmodelle berechtigt sein. Es gehe nicht in allen Jobs, lauten die, manche Arbeit erfordere Anwesenheit, Pflege etwa. Es sei aufwendig und teuer. Und es sei nicht möglich, das Sozialsystem aufrecht zu erhalten, wenn weniger Beiträge gezahlt würden. Das ehrlichste Gegenargument aber wäre: Eine wirklich flexible Arbeitswelt passt nicht mit unserer tradierten Vorstellung von Arbeit und Leben zusammen. Die Welt, in der großteils Männer 43,5 Stunden Vollzeit die Woche arbeiten und Frauen etwas "dazuverdienen", ist offenbar noch zu bequem. Dabei gibt es zahlreiche Gründe dafür, dass eine Welt, in der jeder so viel arbeiten kann, wie er muss und möchte, langfristig eine bequemere wäre. Dazu müsste man das aber erst mal ausprobieren, und das wäre kurzzeitig unbequem für viele.

Doch eines ist klar: Die Arbeitswelt muss sich verändern. Das machen Digitalisierung und Globalisierung notwendig. Vor allem aber gibt es gute Argumente dafür, die Bedingungen, wer wann arbeitet, flexibler zu gestalten - und das für beide Seiten. Vor allem betriebswirtschaftliche Überlegungen sprechen dafür, die Arbeitszeit neu zu gestalten: Wenn etwa Autohersteller zeitweise die Bänder stoppen, weil nicht genug Aufträge vorliegen, wäre ein flexibles Arbeitszeitkonto prädestiniert. Zudem sind Teilzeitarbeiter oft besonders effizient. "Die wenigsten gehen ja in Teilzeit, um an den anderen zwei Tagen zu malen", sagt Josephine Hofmann vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. Oft herrscht eine Doppelbelastung, die Betroffenen sind gewohnt, sich gut zu organisieren.

Die Produktivität sinkt ab 50 Wochenarbeitsstunden

Wer zu Bedingungen arbeitet, die zu seinen Lebensentwürfen passen, ist dankbarer: Er bleibt länger beim Arbeitgeber, ist weniger gestresst und seltener krank. In einer Untersuchung der Boston Consulting Group zeigte sich, dass Berater besonders gut arbeiteten, wenn sie sich zu bestimmten Zeiten nicht mit Arbeit befassten. Umgekehrt hat ein britischer Forscher gezeigt, dass die Produktivität ab 50 Wochenarbeitsstunden rapide sinkt.

Gleichzeitig gibt es volkswirtschaftliche Veränderungen. Derzeit findet eine epochale Umwälzung des Arbeitsmarkts statt: Jobs, in denen es wichtig ist, dass Menschen bestimmte Stunden an einem Band stehen, werden weniger. In solchen Bereichen macht es Sinn, die Arbeit durch variable Arbeitszeit auf mehr Köpfe zu verteilen. Gleichzeitig nehmen Aufgaben zu, bei denen das Ergebnis zählt: Der Gebäudeentwurf oder die App-Idee entstehen nicht im Korsett eines Acht-Stunden-Tages. Oder wie es Holm Friebe und Sascha Lobo in ihrem Buch über modernes Arbeiten einst formuliert haben: "Wie kann man in der Wissensgesellschaft noch davon ausgehen, dass der Output eines Arbeitnehmers im proportionalen Verhältnis zu der Zeit steht, die er in der Firma vor seinem Rechner absitzen muss?"

Auf der anderen Seite werden mehr Hochqualifizierte gebraucht. Nach einer Studie des Instituts zur Zukunft der Arbeit von 2011 könnten 2,8 Millionen Wochenstunden mehr Arbeit erledigt werden, wenn die zeitlichen Wünsche von Müttern in Teilzeit erfüllt würden. Trotzdem arbeiten gut ausgebildete Frauen oft unterhalb ihrer Qualifikation, weil in ihrer Liga Teilzeit nicht angeboten wird. Auch der demografische Wandel spricht für Flexibilität: 2030 werden 3,4 Millionen Menschen pflegebedürftig sein - die Notwendigkeit, die Prioritäten zeitweise zu verschieben, kann in Zeiten, wo viele Menschen keine Geschwister haben, jeden treffen.

Parallel dazu wollen mehr Männer aktiv am Familienleben teilhaben, und die Zahl der Frauen, die arbeiten wollen und müssen, ist gleichzeitig gestiegen. Das geht nur, wenn eine fairere Aufteilung privater Aufgaben erfolgt. Selbst wenn keine äußeren Zwänge vorliegen: Derzeit wächst eine Generation heran, die - je nach Sozialisation in unterschiedlichem Maß - ein anderes Verständnis davon hat, was Arbeit bedeutet und welchen Anteil die in ihrem Leben haben soll. Oder wie es Kerstin Bund in ihrem Buch über die Generation Y beschreibt: "Meine Generation wünscht sich eine Arbeitswelt, in der es auf Ergebnisse ankommt. In der Leistung nicht daran bemessen wird, wie viele Stunden wir im Büro verbringen, sondern daran, was am Ende dabei herauskommt." Es ist eine Generation, die sich von Work-Life-Blend (Verschmelzung) mehr verspricht als von Work-Life-Balance: Der Job soll sie froh machen, dafür darf das Handy am Wochenende klingeln. Und es ist nicht nur die junge Generation. Zuletzt hat eine Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes - nicht eben ein Hort der Hipsterkultur - gezeigt, dass mehr als zwei Drittel der Vollbeschäftigten weniger arbeiten möchten.

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Es spricht also einiges dafür, sich von den Achtstundentagen/Fünftagewochen zu verabschieden. Ebenso klar ist: Wer einen flexiblen Arbeitsmarkt will, steht vor Herausforderungen. Nicht umsonst arbeitet Bundesarbeitsministerin Nahles derzeit an einem Weißbuch zur Arbeit der Zukunft. Noch sind die gesetzlichen Hürden hoch. Zwar besteht seit dem Jahr 2001 formell ein Anspruch auf Teilzeit, inklusive Diskriminierungsverbot. Tatsächlich arbeiten nicht einmal sechs Prozent aller Väter mit minderjährigen Kindern in Teilzeit. Auch Ruhezeiten und andere Vorgaben behindern ein flexibles Arbeiten - das deutsche Arbeitszeitgesetz schreibt eine Maximalarbeitszeit von acht und eine Mindestruhezeit von elf Stunden vor und stammt aus dem Jahr 1994 - zum Vergleich: Das ist das Jahr, in dem der erste Computer mit CD-ROM-Laufwerk auf den Markt kam.

Organisatorisch gibt es ebenfalls Hürden. Verschiedene Arbeitszeitmodelle zu koordinieren, verursacht Aufwand. Dass es geht, zeigt Bosch mit mehr als 100 verschiedenen Arbeitszeitmodellen. Doch selbst wenn Unternehmen offen sind, ist die Idee, dass nur eine Vollzeit arbeitende Kraft auch eine vollwertige Arbeitskraft ist, auf vielen Ebenen verankert. Der Widerspruch zwischen hehren Zielen von der Firmenwebsite und dem Alltag zeigt sich auf grauen Bürofluren: Als sie nach der Elternzeit begonnen habe, Teilzeit zu arbeiten, erzählt Martina Ludwig, die heute eine Jobsharing-Agentur leitet, sei sie in eine Ecke mit anderen "Muttis" gesetzt worden. Nicht, weil sie weniger Lust auf Arbeit hatte - sondern weil Teilzeit eine Schublade war, weit weg von der Schublade, in die Menschen mit dem Label "Potenzial" gesteckt wurden.

Es ist ein Umdenken nötig, auf mehreren Ebenen: Die Beschäftigten müssen ihr Misstrauen besiegen und akzeptieren, dass der Kollege nebenan seine Arbeit gern macht und nicht nach Wegen sucht, sich zu drücken - und dass viel am Arbeitsplatz sein nicht das Gleiche ist, wie viel zu schaffen. Wirklich setzt sich ein Gesinnungswandel erst durch, wenn wie bei Microsoft seit 1998 Vertrauensarbeitszeit herrscht: Weil dann derjenige, der zweimal die Woche später kommt, nicht die heimlich beneidete Ausnahme ist - und der Daueranwesende nicht mehr bedrohliche Konkurrenz. Ein Umdenken muss auch auf Führungsebene stattfinden: Bei Trumpf wird seit bald 20 Jahren mit Arbeitszeitmodellen experimentiert. Dort betont die Geschäftsführung immer wieder, dass sie möchte, dass Arbeitnehmer das nutzen. Aber nur, wenn Chefs auch mal 80 Prozent arbeiten, wird ein Mentalitätswandel stattfinden.

Über all dem schwebt natürlich die sozialpolitische Frage der Finanzierbarkeit. Doch gerade weil klar ist, dass die jetzige Situation - eine schwindende Zahl sozialversicherter Jobs, eine wachsende Zahl prekär Beschäftigter und eine steigende Altersarmut - nicht tragbar ist, gilt es, umzudenken. Und da sind einzelne Modellprojekte vielversprechend, aber nicht die Lösung. Ein neues Verhältnis von Arbeits- und Lebenszeit entsteht eben nicht durch das Recht des Einzelnen auf eine 80-Prozent-Stelle und Förderung des Kita-Platzes. Sondern dadurch, dass das Zusammenspiel aus Arbeit und Leben neu gedacht wird. Dazu braucht es eine Arbeitszeitgestaltung, die sich an Lebensphasen orientiert: flexible Vereinbarungen zum Renteneintrittsalter etwa oder eine Familienarbeitszeit, wie von Familienministerin Schwesig gefordert.

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Aber auch die Durchschnittsarbeitszeit von 32 Stunden, die die Soziologin Jutta Allmendinger postuliert hat, oder ein Konto für die Lebensarbeitszeit können Ansätze sein, den individuellen wie den unternehmerischen Anforderungen gerecht zu werden und dennoch nicht die Sozialsysteme kollabieren lassen. "Die Zukunft gehört den Mutigen", diagnostiziert Forscherin Hofmann in einem Blogeintrag. Die müssen sich aber nicht nur unter Chefs und Angestellten finden. Sondern überall.

© SZ vom 15.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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