Studie zur Jugendkultur:Generation Biedermeier

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Immerzu auf der Jagd nach Zusatzqualifikationen, Fremdsprachenkenntnissen und Praktika: Die Jugend gibt sich sehr erwachsen, kontrolliert und vernünftig - aus purer Angst vor dem beruflichen Absturz.

Elisabeth Dostert

Die Jugend von heute ist "sehr erwachsen, kontrolliert und vernünftig". Das ist das Ergebnis einer Studie zur Jugendkultur des Marktforschungsinstituts Rheingold. Sie zeichnet ein Bild der 18- bis 24-Jährigen, das selbst gestandene Psychologen wie Stephan Grünewald, einer der Autoren der Studie, überrascht hat. "Das Lebensgefühl hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental gewandelt. Von den Rebellen der 68er-Jahre, die sich vehement gegen die miefige Welt der Eltern stemmten, keine Spur", sagt er: "Die Jugend ist zielstrebig. Bildung, Karriere und ein gutes Einkommen stehen hoch im Kurs. Ein kleines Haus mit Garten oder eine Eigentumswohnung, gern. Aus allen Lebensentwürfen schimmert eine Biedermeierwelt." Der Grund: Angst.

Zusatzqualifikationen, Praktika, Fremdsprachen: Jugendliche bilden sich selbst, ohne zu wissen, was sie wirklich wollen. (Foto: dpa)

"Die Angst vor dem Absturz ist zum zentralen Lebensgefühl der Jugendlichen geworden", fasst Grünewald die Ergebnisse der Studie zusammen, die alle acht Jahre erstellt wird. Der Generation Coole Gleichgültigkeit (1994), die alles relativierte, sich über die Eltern und ihre Ideologien mokierte, und der Generation Kuschel (2002), die nach den Terroranschlägen 2001 Halt in sozialen Cliquen suchte, folgt nun die Generation Biedermeier. Sie passt sich an, zeigt sich flexibel und pflichtbewusst, um ja nicht abzustürzen.

Für die Studie haben Psychologen mit 100 Jugendlichen zweistündige Interviews geführt. Sie förderten auch die Gründe für die Panik zutage: Das lange Zeit berechenbare Versorgungsparadies Deutschland zeigt furchterregende Risse. "Fast jeder Jugendliche spürt diese Zerrissenheit seiner Lebenswelt, sei es aus eigener Erfahrung, weil die Eltern geschieden sind oder getrennt leben oder zumindest aus dem nächsten Umfeld", sagt Grünewald.

Selbst Jugendliche aus sogenannten intakten Familien beklagen häufig die mangelnde Präsenz des Vaters. Das erzeuge Wut, von der die Jugendlichen häufig nicht einmal wüssten, gegen wen sie sie richten sollten. "Das klare Feindbild fehlt." Die Eltern gelten als Kumpel, die "selbst in einem Hamsterrad stecken". Und - in den Augen der Jugendlichen - hilflos agierende Politiker taugen auch nicht als Sündenbock. "So richten die Jugendlichen ihre Wut häufig gegen sich selbst", sagt Grünewald. Viele berichteten von "wilden Teenagerjahren" mit selbstzerstörerischen Akten wie Ritzen, Komasaufen, Drogen und Kleinkriminalität.

Aber mit 16 oder 17 Jahren packe sie dann eine ungeheure Angst vor der eigenen Zerstörungskraft. Es folge eine fast manische Suche nach festen und Halt gebenden Ordnungen und Regelwerken. "Pünktlichkeit, Disziplin, Höflichkeit oder Respekt vor Älteren gelten nicht mehr als spießig, sondern als Garanten für die oft vermisste Sicherheit und Verlässlichkeit", sagt Grünewald: "Chaos oder Überraschungen wecken Ängste." Versicherungen oder Bausparverträge seien nicht mehr verpönt, sondern ernstzunehmende Möglichkeiten der Zukunftsplanung. "Für die Jugendlichen ist es wichtig, jederzeit Herr der Lage zu sein", sagt Grünewald. Das durchzieht alle Lebensbereiche. Selbst in der Sexualität werde die Selbstkontrolle nie ganz aufgegeben. "Eine völlig orgastische Hingabe ist den Jugendlichen suspekt."

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Aus Angst vor dem Absturz rüsten die Jugendlichen auf und eignen sich schon in der Schule häufig maß- und wahllos ein Arsenal von Fähigkeiten an: Praktika, Fremdsprachen, Zusatzqualifikationen. Die Auswahl entspreche dabei nicht einem flammenden Interesse oder der Liebe zur Sache, sondern einer Rundumsorglos-Logik. "Ein klares Bild, was aus ihnen werden soll, haben die Jugendlichen meist nicht", so die Studie. 40 Prozent der Befragten waren Auszubildende, 30 Prozent Angestellte, 20 Prozent Arbeiter und zehn Prozent Studenten.

Ein Idealbild, das sich viele Jugendliche wünschen: Ein präsenter Vater in einem heilen Elternhaus. (Foto: Getty Images)

Arbeitslose Jugendliche oder Hartz-IV-Empfänger waren nicht dabei. Auch die wollten die Psychologen für die vom schwedischen Möbelhändler Ikea gesponserte Studie befragen, aber die lehnten ab oder ließen Termine platzen. "Auch das bestätigt irgendwie das Gefühl, das viele Jugendliche heute haben", so Grünewald: "Die Gesellschaft zerfällt in zwei Klassen: Winner und Looser, Superstars und Hartz IV, gut und böse."

Aus Angst, von den Verlierern mitgerissen zu werden, grenzten sich die Sieger ab. Die Verlierer werden als "du Looser" oder "du Opfer" beschimpft, geschmäht und verachtet, selbst von Jugendlichen, die sich für solidarisch und eher links halten. "Die Verlierer sind selbst schuld an ihrem Schicksal", so sehen das Gewinner und nähren damit ihre Illusion, dass sie, wenn sie nicht die gleichen Fehler machen, ihrem Leben selbst eine bessere Wendung geben können. "Das ist aber nicht so", sagt Grünewald. "Jeder kann heute abstürzen, mag er noch so gut ausgebildet und fleißig sein. Da muss nur die Firma pleitegehen."

Aus Angst vor dem Absturz flüchten sich die Jugendlichen in Schon- und Schutzräume. "Die Mütter werden häufig hymnisch verehrt, als Bastion verlässlicher und bedingungsloser Liebe, die nicht an Erfolgskriterien geknüpft ist und einen nach dem Absturz auffängt", sagt Grünewald. Auch die Medien wirken ihm zufolge als Schutzraum. "Kleine MP3-Player fungieren als mobile Ohrenschnuller, die einen umsäuseln."

"Die Sehnsucht nach Verlässlichkeit, stabilen Werten und Wahrheiten, Gewissheit ist groß", sagt Grünewald. Sie münde vielleicht in ein paar Jahren in einen politischen Fundamentalismus, dessen Färbung allerdings noch völlig unklar sei. Die Jugend werde in den nächsten Jahren entschiedener und klarer Position beziehen, wie sie sich ihr Leben vorstellt. Wie, das werden dann die Interviews im Jahr 2018 zeigen.

© SZ vom 11.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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