SZ-Leserin Anna-Maria M. fragt:
Nackte Beine und Füße in Sandalen sind im Geschäftsleben angeblich tabu - zumindest lese und höre ich das immer wieder. Doch in meinem Umfeld halten sich die wenigsten Berufstätigen daran. Gilt denn tatsächlich immer noch, dass sich Frauen bei 30 Grad Sommerhitze in Nylonstrümpfe zwängen müssen? Und gibt es wirklich keine Alternative zu vorne geschlossenen Schuhen?
Jan Schaumann, Etikette-Trainer in Berlin, antwortet:
Liebe Frau M., sobald die Temperaturen steigen, wächst die Lust auf mehr Luft. Endlich können wir den Mantel oder die Jacke zu Hause lassen, das Mittagessen im Freien genießen und dem Sommerurlaub entgegenfiebern, jene schönen Wochen mit Flipflops, Shorts und leichtem Kleid. Was liegt also näher, als sich auch im beruflichen Alltag von den grauen und schurwollenen Zwängen der Business-Garderobe zu befreien?
Ich stimme Ihnen unumwunden zu, wenngleich ich in diesem Fall weniger mit praktischer Erfahrung punkten kann als mit empirischen Erhebungen. 30 Grad celsius und Nylonstrümpfe sind eine Kombination, zu der es sympathischere Alternativen gibt - zum Beispiel das Weglassen der Strümpfe.
Nun lese auch ich immer wieder, dass ein gepflegtes Damenbein grundsätzlich bestrumpft zu sein hat. Und ich frage mich dann immer, ob es nicht eine unzumutbare Qual darstellt, sich bei brütender Hitze zur Hälfte in hautenge Kunstfaser zu zwängen. Genau aus diesem Grund stelle ich in jedem meiner Seminare den Teilnehmerinnen die Frage aller Fragen: Muss das wirklich sein? Es sind inzwischen sicher einige Tausend Damen, die übrigens aus sämtlichen Berufs-, Alters- und Positionsebenen kommen. Und ihre Antwort überrascht mich mittlerweile nicht mehr: Etwa 90 Prozent der Befragten sprechen sich selbstsicher und ohne Zögern dafür aus, dass in einem repräsentativen Aufgabenbereich mit Kundenkontakt der Strumpf den Blick aufs Bein einschränkt. Punktum.
Nun versteht es sich von selbst, dass eine Frau, die ihre Umwelt nicht durch völlige Geschmacksfreiheit piesacken will, zum Strumpf niemals offene Schuhe oder gar Sandaletten tragen würde. Viele Unternehmen, mit denen ich arbeite, sprechen sich sogar klipp und klar gegen sichtbare Zehennägel aus, da diese ausschließlich Privatsache seien. Ob lackiert oder natur ist dabei egal.
Wenn wir einmal die Männer zum Vergleich bemühen, werden Sie mir sicher zustimmen, dass Sie ungern acht Stunden täglich das nackte und bleiche Bein Ihres netten, jedoch leicht übergewichtigen Kollegen am Schreibtisch gegenüber im Augenwinkel haben möchten, oder? Würde er sich dazu noch in Sandalen präsentieren, strapazierte das die kollegiale Toleranz gewiss über Gebühr.
Dies ist kein Angriff auf die emanzipatorische Befreiung von überkommenen Bekleidungskonventionen, sondern eine repräsentativ gewonnene Erkenntnis, die nicht auf meinem persönlichen Mist gewachsen ist. Insofern ist also wieder einmal Fingerspitzengefühl und situatives Entscheiden gefragt. Abhängig davon, mit wem und zu welchen beruflichen Rahmenbedingungen Sie es gerade zu tun haben. Und wie immer ist es beim guten Benehmen so, dass nicht der kleinste gemeinsame Nenner den Maßstab setzen sollte, sondern das Maximum, das ohne Verbiegen und Qual möglich ist. Muten Sie Ihren Mitmenschen stets nur zu, was auch Sie bereit wären, von diesen zu akzeptieren.