Schülerpraktikum:Schnuppern an der eigenen Zukunft

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In der zehnten Klasse bekommen Schüler erstmals Kontakt mit der Arbeitswelt. (Foto: Niels P. Joergensen)

In der zehnten Klasse steht für viele Gymnasiasten ein Berufspraktikum an. Welchen Job sie testen, ist dabei noch nicht einmal das Wichtigste.

Von Kathrin Kommerell

Pilot oder Anwältin, Polizist oder Tierärztin? Die Frage, was man später einmal machen will, ist längst nicht mehr so einfach zu beantworten wie zu Zeiten der Quizsendung "Heiteres Beruferaten". Zumal für Abiturienten: Heute haben sie die Auswahl unter 340 Ausbildungsberufen und gut 18 000 Studiengängen. Da zögern sie die Berufswahl lieber noch eine Weile hinaus. Erst mal einen guten Abschluss machen und dann - wie viele der G-8-Abiturienten, die erst 18 Jahre alt sind - eine Auszeit vom Lernen nehmen und etwas von der Welt sehen.

Die meisten Abiturienten beginnen anschließend mit einem Studium. Doch eine Abbrecherquote von 30 Prozent und der Fachkräftemangel bereiten Politikern und Wirtschaftsvertretern Sorgen. Gymnasiasten sollen sich schon früh und stärker mit ihrer beruflichen Zukunft beschäftigen, heißt es: Die Berufsorientierung war 2017 für die Kultusministerkonferenz ein zentrales Anliegen.

Das Thema soll in der Lehrerbildung verankert werden: In Bayern etwa werden zurzeit Lehrer gesucht, die sich für ihre Schule als "Koordinatoren" fortbilden wollen. Seit diesem Schuljahr ist in Baden-Württemberg "Studien- und Berufsorientierung" ein Abiturwahlfach, ähnlich wie die Projekt-Seminare in Bayern, in denen kleine Schülergruppen drei Halbjahre an einem selbstgewählten Projekt, etwa einer Schülerfirma, beruflich relevante Fähigkeiten erproben.

Schreinerei

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(Foto: privat)

Hannes Riedel, 15, hat sein Schülerpraktikum in der Zimmerei Holzwerk Siebert in Tübingen gemacht: "Ich arbeite gerne mit Holz und habe mir schon einiges gebaut. Eine Lehre wollte ich sowieso nach dem Abi machen, da lernt man etwas, was man selbst brauchen kann und was immer gefragt ist. Der Fragebogen der Agentur für Arbeit hat bestätigt, dass mir Handwerkliches liegt - oder Architektur. Aber ich wollte auch die körperliche Anforderung. Meine Eltern sind Architekten, die sitzen viel am Computer. Gleich am ersten Tag musste ich um 20 vor sieben Uhr da sein, wir sind auf eine Baustelle gefahren, und ich habe den ganzen Tag geholfen, eine Dämmung zu verlegen. So praktisch ging das auf anderen Baustellen und in der Werkstatt weiter. Das war schon anstrengend. Aber die Zeit verging schnell. Ich kann mir jetzt gut vorstellen, dass ich nach dem Abi eine Zimmererlehre mache. Aber mein ganzes Leben lang als Zimmerer arbeiten - nein. Studieren möchte ich trotzdem. Ein Mitarbeiter hat mir erzählt, dass die Karrieremöglichkeiten als Zimmerer dann doch begrenzt sind."

Theater

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Johanna App, 17, hat eine Woche lang den Arbeitsalltag am Landestheater Tübingen kennengelernt: "Ich bin sehr am Theater interessiert und spiele in der Schultheatergruppe. Zur Bewerbung um das Praktikum war ein intensives Vorgespräch nötig. Ich wurde sehr gut betreut, konnte viel miterleben, selbst machen und mich mit den Leuten unterhalten. Es hat voll Spaß gemacht. Aber durch das Praktikum habe ich gemerkt, dass ich beruflich nicht im Theater arbeiten möchte. Es hat sich bestätigt: Es ist immer unsicher, ob man an die Bühne kommt, an der man arbeiten will, man muss viel umziehen, der Stress vor der Premiere, die Erfolgsabhängigkeit. Ich weiß jetzt aber, dass ich das als Hobby auf jeden Fall weiterführen will. Die Woche war toll, ich würde gerne mehr Praktika machen, dann hätte ich auch was anderes ausprobiert. Zum Beispiel etwas in Richtung Jura. Mittlerweile weiß ich aber nicht mal, ob ich überhaupt studieren will. Kürzlich hatten wir den Studientag, das hat mich wieder angeregt, mir Gedanken zu machen. Jetzt, ein Jahr vor dem Abi, fände ich es gut, noch mal ein Praktikum zu machen."

Forschungsinstitut

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Johannes Weiß, 15, hat sein Praktikum am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen absolviert: "Die Woche im Max-Planck-Institut war eine Art ausgedehnte Führung. Ein ehemaliger Forscher des Instituts war extra für uns Praktikanten da. Uns wurde zum Beispiel die Arbeit an einem Niedrigfeldkernspintomographen gezeigt, wir konnten einer Wissenschaftlerin dabei zusehen, wie sie die Wahrnehmung von Gesichtern erforscht, und etwas über Versuche lernen, durch die das Fliegen mit Hubschraubern einfacher und sicherer werden soll. Einmal haben wir Speiseeis aus Joghurt und flüssigem Stickstoff gemacht. Es gab zwar nicht viel praktisch zu tun, aber wir haben einen echten Einblick bekommen. Ich habe wirklich Glück gehabt. Das Praktikum hat mir gezeigt, dass ein Beruf nicht nur aus langweiligem Büroalltag, Zwängen und Gewinnstreben besteht. Als Wissenschaftler hat man einen spannenden Job und kommt viel herum in der Welt. Als Forscher an so einer privilegierten Stelle zu arbeiten: Dafür sehe ich auch ein, dass man Abitur und Studium macht und lange darauf hinarbeitet. Dann wäre sowieso mein Hobby meine Arbeit. Da würden mich auch lange Arbeitszeiten und befristete Verträge nicht schrecken."

Design-Firma

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Hannah Steiner, 16, hat zwei Wochen bei der Firma Designit Strategic Design in München verbracht: "Alle haben immer gesagt, ich würde bestimmt mal Designerin. Seit ich mich erinnern kann, habe ich gezeichnet, gemalt, gebastelt. Es gab gar keine andere Option. Aber ich habe mich nie konkret damit beschäftigt und wusste gar nicht, was das beruflich eigentlich heißt. Während des zweiwöchigen Praktikums habe ich dann erfahren, wie viele Möglichkeiten man hat. Es war toll dort, die Leute hatten selber viel Spaß beim Arbeiten. Auch die vielen internationalen Mitarbeiter - das hat mir gefallen. Aber jetzt würde mich doch etwas ganz anderes mehr interessieren. Jeden Tag kreativ sein müssen - das könnte ich gar nicht. Und der Aufwand bei dieser Arbeit ist so groß, verglichen mit dem Ergebnis. Ich würde die Arbeit auch lieber in etwas Sinnvolleres stecken, um nach der Arbeit zu wissen, ich habe etwas gemacht, was anderen hilft. Zurzeit interessiere ich mich mehr für gesellschaftliche Themen und für Jura. Nach dem Abi werde ich deshalb erst mal ein längeres Praktikum in einer Anwaltskanzlei machen. Doch auf keinen Fall werde ich einfach so, ohne Erfahrung, in ein Jurastudium gehen."

Handwerksbetrieb

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Julian Müssle, 15, war bei der Firma Mey-Generalbau in Tübingen: "Ich bin eher der Typ, der sich lieber die Hände schmutzig macht, als stundenlang auf einen Computer zu schauen. Ich dachte also an ein Handwerk. Ich arbeite gern mit Menschen zusammen und will etwas zum Anfassen herstellen. Kreativität und Ästhetik sind mir wichtig. Da fiel mir ein: Schreiner, Architekt oder Innenarchitekt. Mey-Generalbau ist eine Art Universalhandwerksbetrieb, vom Wasserschaden-Reparieren bis zum Hausbau. Das war auch tatsächlich sehr vielseitig. Innerhalb einer Woche einen tieferen Einblick zu bekommen, geht trotzdem nicht. Es reicht maximal für einige Facetten eines Berufs. Ich fände es gut, wenn das Praktikum länger dauern würde. Und wenn es mehrere während der ganzen Schulzeit gäbe. Ich fand es anstrengend, den ganzen Tag hoch konzentriert zu sein, und abends war der Tag einfach zu Ende. In meinem späteren Beruf werde ich darauf achten, dass ich für mein Privatleben genug Zeit habe. Was ich mal werden will, weiß ich noch nicht. Ich habe ja noch zwei Jahre Schule vor mir, wahrscheinlich werde ich dann doch erst mal studieren. Dieses Jahr haben wir noch ein sozialökonomisches Praktikum, da geh ich ins Altenheim."

Tonstudio

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Marius Hüttemann, 16, hat bei dem Tonstudio Hofkapellmeister in Berlin Praxiserfahrung gesammelt: "Ich spiele zwar Klavier und Trompete, aber mit Sounddesign war ich unerfahren. Die kleine Firma mit den jungen, lockeren Leuten war gut für mich. Ich habe viel mitbekommen, konnte den Profis zusehen und auch mal selbst zum Beispiel zu einem Werbespot Musik komponieren. Die drei Wochen Praktikum haben großen Spaß gemacht. Es war entspannter als in der Schule, und ein Plus war: Wir haben jeden Tag erst um zehn Uhr angefangen. Aber mein Traumberuf ist es doch nicht. Vielleicht ist mein Musikinteresse doch nicht so groß. Auch finde ich es nervenaufreibend, eine halbe Stunde lang für ein paar Sekunden Ton Komponenten zu suchen und auszuprobieren. Gerade tendiere ich eher dazu, Wirtschaft zu studieren, in Richtung Betriebsberatung. Aber das Praktikum und alles, was wir in der Schule zum Thema Beruf gemacht haben, waren wirklich sinnvoll. Man macht sich einfach vorher mal Gedanken und sammelt Erfahrungen. Sonst versteift man sich auf etwas - und dann wird das nichts."

Polizei

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Ciara-Luna Barnitzke, 16, war als Schülerpraktikantin bei der Polizei Landesdirektion Tübingen: "Mein Berufswunsch steht schon lange fest: Polizistin. Mich reizt viel Verantwortung, viel Ansehen, man tut etwas für die Gesellschaft. Es gibt natürlich auch Leute, die die Polizei nicht mögen. Aber man weiß immer, wofür man das macht. Ich habe mich auch schon an der Polizeihochschule informiert. Ich finde es gut, wie viele Möglichkeiten man hat: Ich würde zum Beispiel gerne zur Hundestaffel. Meine Bewerbung für das Praktikum lief über die Schule, die hat eine Art Kontingent für die Stellen bei der Polizei. Die Praktikumswoche verlief sehr durchgeplant, es war eher ein Gruppen-Rundgang mit Infos über die Ausbildung und Karriere. Wir durften natürlich bei keinem Einsatz dabei sein, aber ich fand es schon nah am Alltag. Wir konnten in der Mensa der Hochschule in Böblingen Polizisten und Polizistinnen viel fragen. Ich hatte erwartet, dass wegen des hohen Nachwuchsbedarfs das Berufsbild irgendwie geschönt dargestellt wird. Aber so war es gar nicht. Deshalb hat mir das Praktikum für meinen Berufswunsch mehr Sicherheit gegeben."

In der Mittelstufe der Gymnasien ist das Thema Berufswahl schon bundesweit etabliert: Allgemeine Kenntnisse vermitteln Fächer wie Wirtschaft oder Gemeinschaftskunde von der achten Klasse an. Mit Beratern der Arbeitsagentur lernen Schüler Berufsfelder kennen und können ihre Stärken und Vorlieben erkunden. Andere gehen in einen Betrieb oder besuchen eine Berufsmesse. Eltern stellen an Infoabenden den Schülern ihre Jobs vor. Ein fünftägiges Sozialpraktikum verschafft erste Erfahrungen mit der Arbeitswelt. Viele Schüler begleitet ein Portfolio, mit dem alle Maßnahmen in und außerhalb der Schule dokumentiert werden.

Das Herzstück der Berufsorientierung ist aber das Schülerpraktikum. In der neunten und zehnten Klasse erkunden Schüler eine bis drei Wochen lang einen bestimmten Beruf - und zwar an einer Stelle, für die sie sich eigenständig beworben haben. In einem ausführlichen Bericht gleichen sie diese Erfahrung mit ihren Vorstellungen von der Arbeitswelt und mit den eigenen Berufswünschen ab.

"Das Praktikum ist für die Schüler ein eindrückliches Erlebnis", sagt Stefanie Pommée, Wirtschaftslehrerin am Wildermuth-Gymnasium in Tübingen. "Sonst wird für sie ja alles vorbereitet und strukturiert. Da ist der Entscheidungsprozess und vor allem die Eigeninitiative bei der Bewerbung erst mal eine große Hürde. Für viele ist es eine Herausforderung, aus dem Klassenverband herausgerissen zu sein, allein in einer fremden Umgebung."

Was allen klar ist: Der Nutzen dieser punktuellen Schnupperphase für die konkrete Berufswahl ist abhängig von zufälligen Umständen, von den Betreuern, von der Vorbereitung. Doch der persönliche Gewinn ist oft groß. Außerdem ahnt man endlich, wofür die Schule gut ist: "Die Schüler kommen häufig motivierter in den Unterricht zurück, sie sind bewusster im Hinblick auf später", sagt Elisabeth Marberger, Lehrerin am Sankt-Anna-Gymnasium in München.

Was die Firmen vom Schülerpraktikum haben, reicht von der Nachwuchssicherung, der regionalen Standortwerbung bis hin zu beruflichem Stolz oder persönlichem Engagement. "Natürlich ist es eigentlich mühsam", sagt die Architektin Dorothea Menzel aus Stuttgart, die ab und zu Schülerpraktika vergibt. "Aber wir sind neugierig auf den Nachwuchs. Ein bisschen soziale Verantwortung spielt auch mit, und wenn es junge Leute sind, die sich nicht zu gut sind, auch mal zu fegen, und wissen, wo man anpacken kann, dann macht es richtig Freude."

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Eine validierbare Auswertung der Schülerpraktika gibt es nicht - zu viele Beteiligte und zu viele Einflussfaktoren. Wenn es aber wie geschmiert läuft, dann wird das sichtbar. Das Netzwerk "Schule und Wirtschaft" hat Qualitätsstandards zusammengestellt für die Berufs- und Studienorientierung in der Sekundarstufe und vergibt ein "Berufswahlsiegel". Eine mit dem Siegel ausgezeichnete Schule ist zum Beispiel das Ulrich-von Hutten-Gymnasium im Süden Berlins: Ein umfassendes Konzept von Klasse acht bis zwölf, Schülerfirmen, Kooperationen mit Hochschulen und großen Firmen, Mitglied in Netzwerken - die Lehrer sind sehr engagiert.

Michael Dannenberg, Lehrer für den Oberstufenkurs "Studium und Beruf", betont den größeren Zusammenhang: "Unsere Schüler sollen sich vielfältig und frei ausprobieren können. Wir wollen alle Facetten der Berufsorientierung im Auge behalten. Von der Kenntnis über das offene Bildungssystem und Alternativen zum Studium bis zu Lebensplanung und Selbsteinschätzung."

Die Schule ist gut vernetzt mit Betrieben in der Nachbarschaft und mit den Eltern, oft auch in Personalunion. Und die engagieren sich gern für den Nachwuchs, für den Stadtteil, für Projekte ihrer ehemaligen Schule. Dannenberg hat viele Ideen: "Zum Beispiel noch mehr Eins-zu-eins-Kontakt. Weil es am wichtigsten ist, dass die Schüler herausfinden können, was für sie passt. Am liebsten würde ich es einem Schüler ermöglichen, eine Woche lang mit einem Azubi oder einem Studierenden dessen Alltag zu teilen." Je mehr Einblick in die Realität, umso besser.

Stefanie Pommée sagt, sie möchte "nicht nur output-orientiert unterrichten", sie sieht Schule also nicht in erster Linie als berufsvorbereitende Maßnahme. "Aber ich kann als Lehrkraft dazu beitragen, dass sich die Schüler mit dem Berufsleben und mit ihrer Zukunft frühzeitig auseinandersetzen. Ich möchte, dass meine Schüler am Ende sagen können: Darin bin ich gut. Dass sie erfahren, wo sie es einsetzen können und wie sie damit im Idealfall auch ihren Lebensunterhalt verdienen können." Denn es geht es ja auch um Lebensplanung - um ein Schnuppern an der eigenen Zukunft.

© SZ vom 14.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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