Richtig benehmen:Das geht gar nicht!

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Warum man nie nach dem Weg zur Toilette fragen sollte und wie man seine Hände in die neutrale Parkposition bringt: Erfahrungen aus einem Benimmseminar.

Tanja Rest

Der Körpersprache nach zu urteilen hat es im Leben von Jörg entspanntere Momente gegeben als diesen. ",Wie schön, Sie heute hier bei uns zu sehen", quetscht er heraus, sortiert die Arme neu und schiebt ein gequältes Lächeln hinterher. "Sehr gut", lobt die Seminarleiterin, "und denken Sie bitte daran: Der Kunde hat bei Ihnen einen Föhn gekauft, der nicht funktioniert, jetzt ist er ärgerlich und braucht seine WDAs." Jörg, von Beruf Facility Manager, grübelt und kommt zu einem Ergebnis: "Das tut mir leid für Sie, sowas Dummes ist mir auch schon mal passiert." "Wunderbar, weiter", sagt die Seminarleiterin, "ein WDA fehlt noch!" Jörg grübelt.

Wie jeder hier im Raum mittlerweile weiß, sind WDAs "Worte der Anerkennung". Der tägliche Bedarf des Menschen liegt bei sieben bis neun Stück, und ein verärgerter Kunde braucht drei auf einmal. Jörg grübelt jetzt so intensiv, dass man die Leere in seinem Kopf hören kann. Möglicherweise hat sein Scheitern in diesem kritischen Moment damit zu tun, dass Jörg in der Reklamationsabteilung eines Warenhauses in seinem ganzen Leben noch kein WDA bekommen hat, dass Jörg vielleicht sogar daran gewöhnt ist, Reklamationsabteilungen für Orte der Finsternis zu halten, an denen ein WDA nichts zu suchen hat. Am Ende springt die Seminarleiterin ein. Das dritte Wort der Anerkennung lautet: "Wie schön, dass Sie gekommen sind und uns Gelegenheit geben, den Fehler wiedergutzumachen."

Ein Heidelberger Vier-Sterne-Hotel, darin der Raum "Amsterdam", und frei nach Dante: Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung auf relaxtes Miteinander fahren! Die Trainerin leitet ein Seminar der Haufe-Akademie, das "Business-Knigge" heißt, und sie trägt einen Namen, der sie dafür gleich dreifach qualifiziert: Donata Gräfin Fugger, 42 Jahre alt.

Vor ihr im Halbkreis sitzen sieben Männer und vier Frauen mittleren Alters, meist leitende Angestellte in mittelständischen Betrieben, die den Kanon von Stil und Etikette in der Geschäftswelt kennenlernen sollen. Alle haben das vage Gefühl, von Stil und Etikette eher wenig zu verstehen. Um es mit dem Ohrringträger Carsten zu sagen, Juniorchef einer badischen Werkzeugfirma: "Wie vermeid ich's, ins Fettnäpfle zu dappe, und was mach ich, wenn ich dann doch neidapp?"

In den folgenden zwei Tagen wird Carsten kapieren, dass in seiner Nähe mehr Fettnäpfchen rumlungern, als er für möglich gehalten hätte, und dass die Ohrringe noch der kleinste Lapsus sind. "Sie werden nach dem Seminar nicht mehr derselbe Mensch sein wie vorher", hat die Gräfin gesagt. Sie behält recht.

Donata Gräfin Fugger (korrekte Anrede: "Gräfin Fugger", niemals: "Frau Gräfin") ist eine eher ungräfinnenhafte Person, falls man tatsächlich mit steifem Gehabe und nasaler Weltanschauung gerechnet haben sollte. Sie trägt ein durchaus entschieden konservatives Kostüm, das sie durch eine feine Unentschiedenheit im Auftreten aber locker wieder wettmacht. Ihr natürlicher Blickwinkel ist die Augenhöhe, ihre Konversation von stets gleichbleibender Freundlichkeit, der Humor kommt ein bisschen durch die Blume, ist jedoch spürbar vorhanden, der Tonfall herzlich bis liebevoll. Mehr noch: Es umgibt die Gräfin eine Aura tief empfundenen Verständnisses für die Fettnapf-Dapper dieser Welt. "Sie überlegen sich hinterher natürlich selbst, was hiervon Sie übernehmen wollen und was nicht - absolut Ihre Entscheidung", sagt sie und lächelt.

Nichtsdestoweniger handelt der "Business-Knigge" von elf Menschen, denen das gesellschaftliche Parkett erst mal quadratmeterweise unter den Füßen wegbricht. "Guten Appetit" zum Auftakt des gemeinsamen Mahls: überflüssig, weil selbstverständlich. "Gesundheit" nach Niesen: Sagt man nicht mehr, aus Rücksicht auf etwaige Allergiker, deren Gebrechen nonchalant zu übersehen ist. "Mahlzeit!" beim Gang in die Kantine: Geht gar nicht, weil die Brücke zum Smalltalk nicht geschlagen wird, an den sich eventuell ein Deeptalk schmiegen könnte. "Entschuldigen Sie mich kurz" am Restauranttisch: No way. Falls Sie wirklich mitten im Dinner aufs Klo müssen, schulden Sie keinem Rechenschaft; und kommen Sie jetzt nicht auf den Gedanken, das Personal nach dem Weg zur Toilette zu fragen. "Wo kann ich mir bitte die Hände waschen?" - allerhöchstens. An dieser Stelle macht sich erstmals Unruhe breit im Raum "Amsterdam".

Man muss sich die Besucher eines Benimmseminars wie die Mitglieder einer Gemeinde vorstellen: Alle zahlen Kirchensteuer (in diesem Fall 1190 Euro für zwei Tage), aber darunter gibt es Gläubige wie Ungläubige. Beim Stichwort "Hände waschen" schiebt das Lager der Ungläubigen Anja nach vorne, PR-Beraterin aus dem Ruhrgebiet. Anja sagt: "Is' ja auch irgendwie krass. So redet doch kein Mensch." Es stellt sich allerdings heraus, dass die Regeln von Anstand und Höflichkeit mit der Gräfin nicht verhandelbar sind. Man kann sie entweder befolgen oder ignorieren. Aber sie sind da, ohne jeden Zweifel.

Der nächste Programmpunkt klingt dann wieder einigermaßen überschaubar: "Stehen im Raum". Da kann man nicht viel falsch machen, denkt man, und steht auf. Desaster. Anja wippt allzu locker in der Hüfte, Carsten steht zu breitbeinig, Heike zu krumm, an Rüdiger hängen die Arme wie zwei traurige Bandwürmer herunter. Jörg hat seine Hände in die Hosentaschen versenkt. "Die Hosentaschen", sagt die Gräfin, "nähen Sie am besten zu, die brauchen Sie nicht."

"Stehen im Raum" ist zur allgemeinen Verblüffung eine Kunst für sich. Das Gewicht ist gleichmäßig auf beide Beine zu verteilen, die Füße stehen 20 Zentimeter auseinander und zeigen zum Gesprächspartner hin. Schultern zurück. Rücken gerade. Die Hände wiederum befinden sich in der "neutralen Parkposition", also etwa auf Bauchhöhe, "das wirkt souverän, und da haben Sie es beim Gestikulieren auch nicht weit nach oben und unten", erklärt die Gräfin pragmatisch. Alle üben nun die neutrale Parkposition und sehen nicht glücklich dabei aus. "Wunderbar", sagt die Gräfin, "dann können wir jetzt eine kleine Smalltalk-Übung machen."

Man ahnt bereits, dass man in seinem bisherigen Leben auch beim Smalltalk alles, alles falsch gemacht hat und wird auf furchtbare Weise bestätigt. Allein das Begrüßungsritual wimmelt von Fallstricken. Zunächst einmal sollte der gewiefte Smalltalker alle in Frage kommenden Rangreihenfolgen abgespeichert haben - Frau vor Mann, Alter vor Jugend, Vorgesetzter vor Angestelltem -, weil es nämlich so ist, dass der Ranghöhere dem Rangniederen die Hand reicht und nicht umgekehrt. In der Erinnerung sieht man sich selbst beim letzten Firmen-Event, aus vier Metern Entfernung mit ausgestreckter Hand auf den Chef zugaloppierend. Total vergeigt, der Auftritt.

Wenn nun aber gleich vier Menschen, sagen wir: auf einem Betriebsfest, zusammentreffen und die Rangreihenfolgenanalyse kein eindeutiges Ergebnis produziert, was geschieht dann? Eine gesellschaftliche Katastrophe, wie das nun folgende Rollenspiel belegt.

Carsten gibt den Chef, Heike seine Frau, Anja die Abteilungsleiterin und Ulf ihren Freund. Von beiden Paaren kennen sich nur der Chef und die Abteilungsleiterin, weshalb sich nach den Regeln der Vernunft diese beiden zuerst die Hände schütteln müssten, was Carsten und Anja dann auch herzhaft tun. "Ja", sagt die Gräfin, "vielen Dank, sehr schön. Die Reihenfolge ist aber ein bisschen anders."

Die Reihenfolge ist so: Der Chef zu seiner Frau: "Heike, darf ich dir Frau Schmidt vorstellen, unsere Abteilungsleiterin?" Die Abteilungsleiterin zur Frau des Chefs: "Darf ich Ihnen meinen Partner Ulf vorstellen?" Die Abteilungsleiterin abermals, diesmal zum Chef: "Mein Partner Ulf." Und jetzt erst, nachdem sich alle anderen die Hände geschüttelt haben, streckt der Chef seiner Abteilungsleiterin die Rechte hin, welche diese dankbar ergreift und drückt, aber nicht zu doll. So. Wenn nach dieser Begrüßungsrunde nicht alle schnurstracks zur Bar eilen, um sich erstmal einen doppelten Jägermeister hinter die Binde zu gießen, könnten nun die WDAs ausgetauscht werden.

Nach sechs Stunden Business-Knigge beginnt man sich leise zu fragen, ob Höflichkeit womöglich die raffinierteste Form der Heuchelei ist. Gutes Benehmen ist gespickt mit Euphemismen: Man sagt "genießen" statt essen und trinken. Man sagt "Wie schön, dieses Gespräch mit Ihnen geführt zu haben", wenn man es gern beenden will. Man wirft überhaupt nur so um sich mit Worten der Anerkennung, an die man meistens selbst nicht glaubt.

Das Ergebnis ist eine freundlichere Welt, eine Welt wie aus Watte. Gedämpft, schwerelos und allzeit wohltemperiert, ein Kunstkosmos, aus dem alles Lärmende, Grelle, Unkonventionelle verbannt worden ist. Carstens Ohrringe. Jörgs "zu laute" Krawatte. Anjas Lache, die etwas von einem startenden Kampfjet hat. Man fragt sich, was von dem Menschen eigentlich noch übrig bleibt, wenn die Etikette mit ihm fertig ist, und die Antwort lautet: eine perfekte Oberfläche, die nirgendwo aneckt, aber auch keinem wirklich nahekommt. Der perfekte Businessmensch also.

Am Abend des ersten Knigge-Tages sagt Anja, jetzt hätte sie brutal Lust, sich daneben zu benehmen. Man steht gerade bei einem Aperitif zusammen, hat die Hände in der neutralen Parkposition und das Martini-Glas links, weil rechts begrüßt wird. Insbesondere die Herren zeigen nun Anflüge von Etikette, rücken hier einen Stuhl heran, schwingen sich dort zu einem WDA auf. Es ist insgesamt recht erstaunlich. Die allermeisten finden, dass ihnen das Seminar etwas bringt. "Man isch jetz um einiges reicher an Benehmen", sagt Carsten. Heike sagt, sie werde sich nicht komplett umstellen. "Aber es ist schon gut zu wissen, auf welche Sachen man achten sollte. Da fühl ich mich in Zukunft sicherer." Nun ja. Das war vor dem Vier-Gänge-Menü.

In München war vor einiger Zeit die grandios sympathische Prinzessin Viktoria von Schweden bei der Bewältigung eines sechsgängigen Galadiners zu besichtigen. Sie war 26 Jahre alt, und ihr Rücken berührte kein einziges Mal die Stuhllehne. Man wusste nicht, ob man sie bemitleiden oder bewundern sollte, aber seit dem Knigge-Menü weiß man wenigstens, was sie damals geleistet hat.

Erster Gang: Riesengarnelen, zu zerlegen mit Messer und Gabel. Zweiter Gang: Zwiebelsuppe unter einer voluminösen Blätterteighaube, welche die Gräfin als einzige elegant mit dem Löffel filetiert. Mit jedem Gericht kommt ein Gordischer Knoten aus Regeln auf den Tisch. Die Brot-Regel: Niemals die ganze Scheibe mit Butter bestreichen, sondern Stücke abbrechen und einzeln buttern. Die Hand-Regel: Zwischen den Gängen ruhen die Hände locker auf der Tischkante, und zwar übereinander. Die Sechzehnuhrzwanzig-Regel: Diese Zeit hat das Besteck auf dem geleerten Teller anzuzeigen. Die Fingerschalen-Regel: Wenn eine Schale, mit Zitronenwasser gefüllt, zur Riesengarnele gereicht wird, darf man getrost Messer und Gabel liegen lassen.

Dazu erzählt die Gräfin die großartige Geschichte, wie einmal ein deutscher Bundespräsident, dessen Namen sie selbstverständlich verschweigt, einen afrikanischen Würdenträger zum Staatsdiner empfing. Die Protokollabteilungen beider Länder hatten alles bis ins Kleinste abgesprochen, nur die Fingerschale zum Seafood, die hatten sie verschwitzt. Der afrikanische Würdenträger setzte die Fingerschale an die Lippen und trank sie in einem Zug leer. Worauf dem Bundespräsidenten nichts anderes übrig blieb, als das gleiche zu tun.

Zwischen Gang zwei und drei, auf dem Weg zum Händewaschen, sieht man drüben in der Fernsehlounge Jörg stehen, Jörg vom Facility Management, Jörg mit einer Krawatte, deren Lautstärke sich gegenüber dem Vormittagsmodell deutlich verringert hat. Er hängt so überm Tresen, Ellenbogen volle Breitseite auf der Platte. Mit "Stehen im Raum" hat das nichts mehr zu tun. Jörg sagt, der Business-Knigge ist einsame Spitze, aber jetzt will er am liebsten zum McDonald's, die Füße auf den Tisch legen und sich einen anständigen Burger zwischen die Zähne rammen.

Zum dritten Gang erscheint er trotzdem wieder. Es gibt Wachtel.

© SZ vom 21.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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