Kritik an der Bologna-Reform:Bestandsschutz für den Irrtum

Schöne neue Parallelwelt

Überschätzt wird die lokale Korrekturmasse: das also, was Hochschulen aus vermeintlichen oder wirklichen Fehlern lernen und im Eilgalopp selbständig ändern können. Denn vieles von dem, was im Namen von Bologna geschehen ist, hat sich umgehend in geltendes Recht verwandelt und damit Ansprüche geschaffen, die nicht mehr so einfach abzuschütteln sind. Bestandsschutz genießt auch der Irrtum; deshalb muss, wer ihn ausradieren will, neben dem (schlecht)laufenden Betrieb schöne neue Parallelwelten kreieren: eine Novelle für jedes Ärgernis. Reformen beginnen einander zu jagen.

Das hält nach kurzer Zeit kein Kopf mehr aus und auch kein Amt und kein "System". Irgendwann wird es heißen: rien ne va plus. Wenn "Wiederverbesserer" laufend Rechtskulissen verschieben und geltendes Regelwerk als lästige Randerscheinung behandeln; wenn Amtsblätter, von der schnelllebigen Zeit überrollt, hauptsächlich (vor)gestrige Aktenlagen dokumentieren, dann ist das Durcheinander perfekt. Ein besser geordneter Rückzug auf dem System der Bologna-Studiengänge würde nur beweisen, dass man vorher kaum vorwärts gekommen war.

Soll sich doch der Apparat kümmern

Was tun? Zumindest lanciert die stabile Verwirrung den starken Auftritt. Man ergreift mutig das Schwert, holt entschlossen aus - und lässt den Knoten entwirren. Roma locuta, Bologna finita - sollen sich doch andere ("der Apparat") darum kümmern, wie dem Willen Wirklichkeit eingehaucht werden kann. Diesen windigen Dezisionismus garniert ein wählerischer Perfektionsdrang, der den Anspruch mit Bedacht in solche Höhen treibt, dass willkommene Enttäuschungen zwangsläufig sind. Alles muss passen - sobald irgendein Teil nicht funktioniert, ist das Ganze nichts wert.

Studierende, so sieht es nun mal aus, sind europamüde geworden - gewiss ein politisches Debakel, auch darüber hinaus bedauerlich, doch für den "Geist" an sich kein Grund zu spektakulärer Trauer; es gibt Schlimmeres. Gleichwohl kapitulieren die Kritiker, bedingungslos, unwiderruflich und stellvertretend. Wir sind gescheitert, wir geben es zu, wir marschieren zurück. Bologna minus Erasmus ist gleich null.

Klüger und cleverer

Wer diese Gleichung aufstellt, unterschätzt wissentlich den Handlungsspielraum an Ort und Stelle. Zum Beispiel: Modularisierung der Studiengänge plus Mut zur Lücke. Daraus ließe sich etwas machen. Man könnte, auf lebensnahe Fallstudien gestützt, einschlägige Theorienbestände und Methodeninventare den Studierenden exemplarisch vor Augen führen. Dann würden sie klüger und cleverer, theoretischer und praktischer in die Welt hinaus ziehen, als es früheren Generationen gemeinhin vergönnt war - deren Erziehung noch darauf abgezielt hatte, leere Köpfe mit kanonisiertem Wissen vollzupumpen, getreu dem Motto, dass niemand von sich behaupten könne, dieses oder jenes Fach studiert zu haben, der dieses oder jenes Faktum nicht wisse. "System" wurde genannt, was in Wahrheit Serie war, eine endlose Sequenz aneinandergereihter "Stoffe". Nicht von ungefähr haben die ratlosen Adressaten dieser seriellen Pädagogik ihren Lehrmeistern Mal für Mal zurückgemeldet, sie hätten "den Zusammenhang der Veranstaltung mit anderen Veranstaltungen" nicht erkennen können. Passiert ist dennoch nichts. Denn man war penibel auf den "gerechten" Ausgleich zwischen akademischen Reservaten und Relevanzen bedacht.

Das Ergebnis der Nichtreform: randvolle Studiengänge, die tradierte Wissensbestände krampfhaft komprimieren, um das gleiche Informationsvolumen in kürzerer Zeit dem überfütterten Publikum näherzubringen; und die, obsessiv darauf erpicht, verdichtete Botschaften in strapazierten Köpfen zu verankern, jahrein, jahraus grandiose Prüfungsfestivals inszenieren. Alles Weitere ist bekannt: Unter solchen Auspizien stresst Studieren derart, dass kein Mensch mehr "mobil" sein will - was man freilich nicht der verrückten Praxis oder dem falschen Ehrgeiz anlastet, sondern listig auf das Konto Bologna verbucht.

Auf der nächsten Seite: Augenscheinlich haben viele Professoren das Gefühl, von liebgewonnenen Fleischtöpfen vertrieben worden zu sein.

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