Angst vor doppeltem Abi-Jahrgang:Studieren geht über probieren

Lesezeit: 3 min

Schnell weg, bevor 2011 mit dem doppelten Abitur-Jahrgang die Massen kommen: Wer jetzt in Bayern Abitur macht, drängt an die Unis - ein Jahr Auszeit traut sich kaum einer zu nehmen.

Katja Riedel

Isabelle hat der doppelte Abiturjahrgang schon früh erwischt, schon Jahre, bevor dieser überhaupt die bayerischen Schulen verlässt - nach acht oder neun Jahren Gymnasium. Ihr Vater hat Isabelle raushalten wollen aus dieser Schulreform. Er lehnt sie ab - auch, weil er seiner Tochter das Gerangel um Studienplätze und Sitze in überfüllten Hörsälen ersparen wollte. Deshalb nahm der Unterhachinger einen Kredit auf und schickte seine Tochter, die noch zu den Neun-Jahres-Gymnasiasten gehört hätte, nach England.

Durch die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre drängt 2011 ein doppelter Abiturjahrgang in die Unis. (Foto: dpa)

Mehr als 60.000 Euro ließ er sich diese Beschleunigung kosten. Dieser Tage macht Isabelle das englische Abitur. Doch damit sie auch wirklich im Herbst Tiermedizin studieren kann und nicht doch noch in den großen Ansturm hineingerät, schreibt ihr Vater jetzt Briefe an Ministerien und spricht im Landtag vor. Das Problem: Isabelle wird ihr Zeugnis erst im Sommer vorlegen können, wenn die bundesweite Bewerbungsfrist für Tiermedizin eigentlich schon abgelaufen ist. Ob die Flucht ins Ausland letztlich erfolgreich war, ist also ungewiss.

Isabelle ist bei weitem nicht die einzige, deren Lebenspläne der doppelte Abiturjahrgang durcheinanderwirbelt. Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch hat zwar immer wieder betont, dass die Unis vorgesorgt hätten, dass ausreichend Studienplätze eingerichtet werden würden und dass niemand wegen des Doppeljahrgangs auf der Strecke bleibe. Doch die Abiturienten in diesem und im kommenden Jahr scheint er nicht überzeugt zu haben. Hört man sich unter Schülern um, ergibt sich ein eindeutiges Bild: Wer in diesem Jahr Abitur macht, beeilt sich, möglichst schnell an die Uni zu kommen, um sich einen Platz zu sichern. Und wer 2011 dran ist, überlegt jetzt schon, wie er eine Auszeit sinnvoll nutzt.

Anderl Ammer wollte die Wiege der Menschheit kennenlernen, wollte ein Jahr lang in Zentralafrika von Medizinmännern alternative Heilmethoden lernen. Nun aber beginnt der Unterschleißheimer mit dem Abi-Schnitt von 1,2 schon im Herbst, in München Medizin zu studieren. Nach Afrika wäre er gern gegangen, um sich auszutauschen, schließlich hat er für seine Studien zur heilenden Wirkung von Geranien-Extrakten einen Preis bei "Jugend forscht" gewonnen. Auch wollte er einige Monate in dem marokkanischen Waisenhaus mithelfen, für das er Geld gesammelt hat. "Aber 900 Kommilitonen im ersten Semester sind schon genug", sagt Ammer, "da muss ich nicht warten, bis es 1800 sind."

Dieses Bild bestätigen die Trägerverbände des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ). "Wir führen zwar keine Statistiken, aber wir bemerken, dass sich weniger Abiturienten für ein FSJ bewerben als in den vergangenen Jahren", sagt Michael Richter, Teamleiter FSJ beim Bayerischen Roten Kreuz. Vor allem in Einrichtungen für Kinder seien Abiturienten weit mehr gefragt als Absolventen anderer Schulen - auch weil sie volljährig sind. "Dort schlagen sie in diesem Jahr die Hände überm Kopf zusammen", sagt Richter. Gerade im Großraum München sei das Problem in diesem Jahr relevanter als im übrigen Bayern.

Promis und ihr erster Job
:Was soll aus euch werden?

Die Geschichte vom Tellerwäscher kennen wir. Aber auch andere Berufseinstiege sind erfolgversprechend. Wie Prominente noch heute von ihrem ersten Job profitieren.

Bilder.

Generell, das bestätigen auch andere FSJ-Träger, seien die Bewerberzahlen von Abiturienten rückläufig, weil viele von ihnen ein Auslandsjahr oder den direkten Studienbeginn bevorzugten. Die Träger klagen über Planungsunsicherheit, nicht nur weil die Frage, wie es mit Wehr- und Zivildienst weiter geht, noch völlig offen ist. Auch erwarten sie im kommenden Jahr einen regelrechten Ansturm auf die Plätze - vor allem in letzter Minute, wenn die Universitäten ihre Absagen verschickt haben. Jetzt also herrscht Flaute, 2011 wird's stürmisch.

Viele Abiturienten verzichten auf eine Auszeit, um so den vollen Hörsälen in den kommenden Jahren zu entgehen. (Foto: dpa)

Das Bauchgefühl der Kollegen kann der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in der Erzdiözese München und Freising bereits in Zahlen fassen: Vor zwei Jahren hatten sich noch 70 Abiturienten beworben, im vergangenen Jahr 57, in diesem nur mehr 48. "Diejenigen, die sich dafür entschieden haben, trotz des Doppeljahrgangs ein Jahr bei uns zu arbeiten, haben aber gesagt, dass sie sich des Risikos und der drohenden Konkurrenz in einem Jahr bewusst sind", berichtet Daniela Auerbach vom BDKJ. In eine Notlage geraten die Sozialeinrichtungen angesichts des Bewerberschwunds bei den Abiturienten aber nicht, denn auch Haupt- und Realschüler bewerben sich auf die FSJ-Stellen.

Matthias Fack, der die Landeskonferenz FSJ leitet, sieht vor allem 2011 eine Herausforderung auf die Träger zukommen. Zwar habe man mit der Staatsregierung über den drohenden Ansturm gesprochen - über höhere Staatszuschüsse sei aber noch nicht entschieden. Sollte der Abiturientenanteil in den Freiwilligendiensten von derzeit 45 Prozent konstant bleiben, hieße das, bayernweit 1400 zusätzliche Stellen einzurichten. "Das ist mehr, als wir leisten können", sagt Fack. Möglicherweise könnte man einen Teil der FSJ-ler schon früher als zum üblichen Starttermin, dem 1.September, beginnen lassen.

© SZ vom 23.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: