ADHS im Beruf:"Viele haben große Selbstzweifel, auch wenn sie äußerlich selbstsicher wirken"

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Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, fällt Menschen mit ADHS besonders in der Einarbeitungsphase schwer. (Foto: Elnur/imago)

Heiner Lachenmeier ist Psychiater und Psychologe. Und er hat ADHS. Über die Frage, ob man schon in der Bewerbung darauf hinweisen soll und wie Betroffene ein Team bereichern können.

Interview von Miriam Hoffmeyer

Erwachsene mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben häufig Schwierigkeiten im Beruf: Planung und Organisation des Arbeitsalltags fallen ihnen schwerer als anderen, sie vergessen Termine und Routineaufgaben und verzetteln sich leicht. Der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Heiner Lachenmeier, selbst ADHS-Betroffener, hat ein Buch darüber geschrieben, wie sich typische Probleme überwinden lassen. Er ist überzeugt, dass ADHS im Beruf auch Vorteile bieten kann.

SZ: Welche Hürden müssen Menschen mit ADHS überwinden, wenn sie eine neue Stelle antreten?

Heiner Lachenmeier: In der Einarbeitungszeit sind besonders viele neue Informationen zu verarbeiten. In dieser Phase wirkt es sich sehr negativ aus, dass ADHSler Informationen nicht automatisch vorfiltern können, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es fällt ihnen schwer, einen Überblick zu gewinnen, die Einarbeitung dauert daher länger, und sie machen eher Fehler. Ich habe mehrmals erlebt, dass ADHSlern während der Probezeit gekündigt wurde, obwohl sie auf ihrer vorherigen Stelle sehr erfolgreich waren.

Heiner Lachenmeier ist Psychiater, Psychotherapeut und selbst ADHS-Betroffener. (Foto: privat)

Sollte man dem Arbeitgeber vielleicht schon bei der Bewerbung mitteilen, dass man ADHS hat?

Nein, man trifft auf viele Vorurteile und auf Halbwissen und landet leicht in der Troublemaker-Schublade. Aber zu Beginn der Probezeit sollte man ruhig sagen, dass man sich gründlich einarbeiten möchte und dafür vielleicht mehr Zeit braucht. Es kann auch helfen, sich in den ersten Wochen möglichst viele Informationen aufzuschreiben und jeden Abend in Ruhe noch mal drei wichtige Punkte durchzugehen.

Und nach der Einarbeitungszeit?

Ist es weiterhin nötig, dafür zu sorgen, das die Voraussetzungen für gute Arbeit gegeben sind. Die Bedürfnisse sind bei ADHS individuell verschieden: Manche werden von kleinsten Nebengeräuschen gestört, andere können sich bei einem gewissen Lärmpegel sogar besser konzentrieren. Wer nach jeder Ablenkung sehr lange braucht, um wieder in die Arbeit hineinzufinden, kann versuchen, die empfundene Belastung zu reduzieren. Ich hatte einen Klienten, dessen Chef stündlich mit einer neuen Aufgabe in sein Büro kam. Er hat schließlich darum gebeten, die Aufgaben im Bündel zu bekommen, das klappte gut.

Sind Menschen mit ADHS nicht so belastbar wie andere?

Doch, oft packen sie sich sogar viel zu viel auf, machen Überstunden, helfen Kolleginnen und Kollegen. Das ist eine der möglichen Kompensationsstrategien, um mit der eigenen Unsicherheit in der Informationsflut umzugehen. Dieses Verhalten kann zu beruflichem Erfolg führen, aber die Gefahr der Überlastung ist groß. Darum sollten Menschen mit ADHS regelmäßig prüfen - am besten anhand einer Liste -, welche Aufgaben wirklich wichtig und dringlich sind.

Woran liegt es, wenn sie scheitern?

Die häufigste Ursache ist der "negative Röhrenblick": Viele haben große Selbstzweifel, auch wenn sie äußerlich selbstsicher wirken. Kleine Anlässe können dazu führen, dass alles Negative übergroß erscheint: Sachliche Kritik wird als Entwertung wahrgenommen, fehlende Sympathie als totale Ablehnung. Das löst Versagensgefühle und Aggressionen aus, die alles noch schlimmer machen. Entscheidend ist, dass man lernt, rechtzeitig aus solchen Situationen rauszugehen, um den eigenen Wert wieder zu spüren.

Bringt ADHS eigentlich nur Nachteile mit sich?

Nein, es bietet auch große Potenziale, was leider zu selten gesehen wird. Relativ bekannt ist ja, dass sich ADHSler in Fachgebieten, für die sie ein intrinsisches Interesse haben, sehr gut auskennen - und darin auch schneller arbeiten als andere. Dass sie mehr und vielfältigere Assoziationen haben, weil sie Informationen eben nicht schon automatisch vorfiltern, kann zu neuen, kreativen Lösungen führen. Und in Krisen behalten sie wegen ihrer Erfahrung mit unübersichtlichen Situationen oft einen kühlen Kopf.

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