Kaum ein amerikanisches Verfassungsdokument dürfte die Fantasie Hollywoods so beflügelt haben, wie der 18. Zusatzartikel. Vor genau einem Jahrhundert wurde mit ihm die landesweite Alkoholprohibition ratifiziert, die im Folgejahr begann und anschließend 13 Jahre lang wilden Stoff bot.
So oft und ausladend wurde seither die Geschichte von Schmuggel, Suff und Schießwut erzählt, dass sich im kollektiven Gedächtnis der westlichen Welt diese Lesart festsetzte: Prohibition, das war die Katastrophe der Prüderie. Sie entfesselte Gesetzlosigkeit und Gewalt in den Großstädten und brachte Exzesse ohnegleichen über das Land. Noch heute kann man damit rechnen, dass die Geschichte vom gescheiterten US-Experiment hervorgeholt wird, sobald jemand über strengere Alkohol- oder Drogenregulierungen auch nur nachdenkt.
Doch tatsächlich taugt das amerikanische Alkoholverbot nicht zum politischen Lehrstück. Zu einzigartig und komplex sind die Vorgänge, zu lückenhaft die epidemiologischen Daten und zu sehr von Mythen durchsetzt ist die Interpretation.
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So war die Prohibition keinesfalls ein Wahnsinnsakt einiger weniger Frömmler und Fanatiker, sondern hatte breite Unterstützung in der Bevölkerung. Vor allem Frauen wollten die Familienkasse nicht mehr mit Kneipenwirten teilen und durch öffentlich trinkende Männer beschämt werden. Schon 1916 bezeichneten sich 23 US-Staaten als trocken. In 17 von ihnen hatten die Einwohner für das mehr oder weniger strikte Alkoholverbot gestimmt.
Die landesweite Prohibition bildete letztlich einen Kompromiss aus all den unterschiedlichen Regelungen der Bundesstaaten. Heraus kam ein Gesetzestext, dessen 72 Absätze kompliziert, mehrdeutig und widersprüchlich waren - und vor allem große Schlupflöcher ließen. Tatsächlich hatten die Prohibitionisten vor allem ein Ziel: Sie wollten den Saloon sterben sehen; jene Schenke, die als Hort der Korruption, der Enthemmung, manchen sogar als "siamesischer Zwilling der Syphilis" galt.
Doch so radikal man gegen den Alkohol in der Öffentlichkeit vorging, so sehr schreckte das Gesetz vor den Wohnungstüren zurück. Hinter ihnen durften die Schnapsregale bis zum Bersten gefüllt sein, es durfte Alkohol in beliebigen Mengen hergestellt und getrunken werden. Solange nicht bewiesen war, dass die Getränke der Geschäftemacherei dienten, hatte niemand etwas zu befürchten. Es öffneten Läden, die gut an Hopfen und Malz für die Heimbrauerei verdienten. Lebensmittelhändler stellten unverhohlen das Zubehör für die Weinkelterei aus.
Firmen, die Alkohol für industrielle Anwendungen - etwa im Frostschutzmittel - produzierten, wurden kaum kontrolliert. Denn wie schon die Privatsphäre wollte man auch das Unternehmertum nicht antasten. Tatsächlich wurde aus diesen Firmen massenhaft Alkohol für die Getränkeherstellung abgezweigt, wie es das National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism (NIAAA) vor einigen Jahren beschrieb. Es machte die Situation auch nicht besser, dass zunächst überwiegend schlecht ausgebildete und unterbezahlte Beamte für die Kontrolle der Prohibitionsregeln abgestellt wurden.
Das alles ließ den Schwarzhandel aufblühen, ließ unzählige Hinterzimmerkneipen entstehen und unterminierte die Botschaft von der Schädlichkeit der Spirituosen. Der legendäre Gangsterboss Al Capone brachte die Ambivalenz auf den Punkt, als er sagte: "Wenn ich Schnaps verkaufe, ist es Schmuggel. Wenn meine Kunden ihn auf einem Silbertablett servieren, ist es Gastfreundschaft."
Und doch brachte das Gesetz bei all seiner Unzulänglichkeit nicht nur Absurditäten und Chaos hervor. "Es gibt heute wenig Disput darüber, dass der jährliche Pro-Kopf-Konsum von Alkohol infolge der Prohibition sank", bilanziert eine vom NIAAA erstellte Analyse.
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Eine ganze Reihe Studien kam im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu dem Schluss, dass während der Prohibition weniger Menschen an Leberzirrhose starben, die Kliniken nicht mehr so viele Fälle von Alkoholpsychose verzeichneten und Polizisten seltener Betrunkene in Ausnüchterungszellen stecken mussten.
Auf der Basis dieser und anderer Indikatoren schätzen Forscher, dass der Alkoholkonsum zunächst drastisch sank. Mit der Etablierung der Schwarzmärkte sei er wieder gestiegen und habe sich dann auf einem Niveau eingependelt, das bei etwa 50 bis 70 Prozent des Prä-Prohibitions-Levels lag.
Man kann darüber streiten, welcher Anteil der Entwicklung auf das Gesetz zurückzuführen ist und welcher auf das allgemeine Klima jener Zeit. Vielleicht hätte es auch ohne die Prohibition mehr Nüchternheit in den Staaten gegeben. Doch die Aussage, dass während der Prohibition erst recht gezecht wurde, weil die Menschen - im Herzen noch immer Kinder - nun einmal das Verbotene suchen, lässt sich nach Meinung der meisten Historiker und Public-Health-Experten nicht halten.
Schwieriger ist einzuschätzen, welchen Preis die Gesellschaft für das Experiment zahlen musste. Es ist sicher, dass sich illegaler Handel in großem Stil entwickelte. Nicht selten verdienten auch Polizisten mit, was die allgemeine Moral sinken ließ. Aus Städten wie New York und Chicago sind brutale Bandenkriege um den illegalen Stoff belegt. In Chicago beispielsweise stieg die Mordrate während der Prohibition um 21 Prozent, ergab eine 2009 im Fachjournal Addiction publizierte Statistik.
Doch selbst diese Daten sind nicht ganz schlüssig, denn ausgerechnet die Morde, die mit Alkohol in Verbindung gebracht werden konnten, nahmen nicht zu. Dieser Befund könnte auf mangelnde Aufklärung und Korruption zurückgehen. Er könnte jedoch auch dafür sprechen, dass der Alkoholschmuggel gar nicht so viel Gewalt hervorbrachte, wie oft angenommen.
Historiker wiesen immer wieder darauf hin, dass das organisierte Verbrechen nicht erst mit der Prohibition entstand. Auch ein Al Capone verdankte seine Macht nicht erst dem illegalen Schnapshandel, sondern erbte Revier und Status von anderen Gangsterbossen.
Es war wohl eher so, dass die Prohibition Kriminellen ein einträgliches neues Betätigungsfeld bot, das weniger Risiko und Stigma mit sich brachte, als die herkömmlichen Räubereien. Die öffentliche Meinung, wonach die Gesetzlosigkeit umfassend war, sei jedoch eher den Gangsterfilmen geschuldet, vermutet der australische Gesundheitswissenschaftler Wayne Hall.
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Das NIAAA zog daher drei Lehren aus dem Experiment. Den Durst nach Alkohol kann die Regierung nicht gänzlich eliminieren. Es wird zwangsläufig Nachschub über illegale Kanäle geben. Dennoch können der Konsum und die mit ihm einhergehenden Gesundheitsprobleme deutlich reduziert werden, wenn die Verfügbarkeit des Stoffs eingeschränkt wird und die Preise steigen.
Ähnliche Erkenntnisse hat man auch unter ganz anderen Bedingungen gewonnen. In der Sowjetunion startete Michael Gorbatschow 1985 ein kurzes, aber intensives Experiment. Die Alkoholproduktion wurde drastisch eingeschränkt, die Getränke deutlich verteuert.
Ökonomische Argumente gaben den Ausschlag für das Prohibitionsende
Verschiedene Erhebungen legen nahe, dass daraufhin etwa zehn Prozent der Menschen gar nicht mehr und ein Drittel der Bürger geringere Mengen als zuvor tranken. Russischen Daten zufolge wurden dadurch 1,2 Millionen Menschenleben gerettet. Der Versuch währte nur drei Jahre; letztlich erwiesen sich die Unzufriedenheit der Einwohner und die finanziellen Verluste für den Staat als zu hoch.
Das Ende der US-Prohibition nahm einen ähnlichen Verlauf. Dass sie im Jahr 1933 wieder abgeschafft wurde, war weniger gesundheitlichen oder rechtlichen Erwägungen geschuldet, sondern den ökonomischen Argumenten der Gegner.
Als von 1929 an die Große Depression einsetzte, fand vor allem dies Gehör: Dem Staat waren seit Beginn des Verbots etwa elf Milliarden Dollar an Steuern entgangen.