Kanzlerin Merkel:Zu viel Gezitter um das Zittern

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  • Anzeichen der Anspannung wie bei der Kanzlerin erleben viele Menschen.
  • Meist sind sie harmlos und verschwinden von alleine wieder.

Von Werner Bartens

Eine unangenehme Situation: Allein vorne auf der Bühne, am Rednerpult oder als Hauptperson während eines Empfangs. Alle Augen sind auf einen gerichtet, und dann ist da plötzlich dieses Unwohlsein, diese leichte körperliche Schwäche. Was Angela Merkel in den vergangenen Wochen schon dreimal erlebt hat, kennt in mehr oder minder schwerer Form jeder, der gelegentlich im Rampenlicht steht.

Ausgelöst werden können entsprechende Symptome durch Mangel an Schlaf oder Flüssigkeit, aber auch durch körperliche oder seelische Belastungen. Dann reagiert jeder auf seine Weise, mal mit Schwindel, mal mit Zittern, mit plötzlicher Unruhe oder Schwäche. "Man kann nicht nicht psychosomatisch reagieren", lautet die Erklärung jener Ärzte, die sich mit dem Zusammenspiel von Körper und Seele beschäftigen.

Angela Merkel
:Empfang im Sitzen

Die Kanzlerin begrüßt die dänische Regierungschefin mit militärischen Ehren. Nach den Zitter-Anfällen Merkels sitzen die beiden während der Hymnen auf Stühlen. Später betont Merkel, dass sie "der Verantwortung des Amtes" gemäß auf ihre Gesundheit achte.

Dann kann es - wie vermutlich im Fall der Bundeskanzlerin - zu einem "dissoziativen Phänomen" kommen, also zu kurzzeitigem Kontrollverlust. Die psychomotorische Reaktion des Körpers, in diesem Fall das Zittern, kann nicht mehr willentlich beeinflusst werden, da helfen auch Ratio oder besondere Anstrengungen nichts. Gerade weil sie so im Mittelpunkt steht, löst das Zittern der ersten Frau im Staate starke Reaktionen aus. Durch ihr irritiertes Umfeld und die offenen Fragen nicht nur von Seiten der Medien bekommt sie rückgemeldet, dass es sich um etwas Ernstes handeln könnte.

Sich "durchchecken" zu lassen, vermittelt eher eine scheinbare Sicherheit

Derart emotional aufgeladen, beeinträchtigt sie das Zittern kurzfristig. Sobald es ähnliche Auslöser-Situationen gibt, kann das Phänomen erneut auftreten. Und der verständliche Wunsch, es zu verhindern, geht mit einer Anspannung einher, die wiederum genau die Symptome fördert. Das lässt sich nicht willentlich stoppen - das ist das "Dissoziative" an der Situation. Das gerade durchlebte Reaktionsmuster wiederholt sich, wenn ähnliche Umstände auftreten. Die Rückkopplung verstärkt sich, wenn die Konzentration auf ein Ereignis gerichtet ist, das es unbedingt zu vermeiden gilt - woraufhin es zum nächsten Anlass gerade wieder auftritt.

Bedrohlich ist das keineswegs, eher lästig, vermutlich harmlos. Hilfreich für Betroffene ist es, ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Andere Inhalte in den Vordergrund zu stellen, mit Zuversicht davon auszugehen, dass die Beschwerden bald vergehen. Verneinung hilft nicht - so wie es unmöglich ist, sich keine rosa Giraffe vorzustellen, weil das gefärbte Tier sofort vor dem inneren Auge erscheint, so verfehlt auch das Mantra "jetzt zittere ich nicht" sein Ziel, da das, was vermieden werden soll, in den Fokus rückt.

Oft hilft der Versuch, sich im weniger belastenden Umfeld ähnlichen Situationen auszusetzen, die "Expositionsprophylaxe". Was Frau Merkel in Hinblick auf den letzten Vorfall als Teil ihrer "Verarbeitungsphase" beschreibt, die "offensichtlich noch nicht ganz abgeschlossen" sei, beschreibt diese Form der Bewältigung ziemlich gut.

Dass Spekulationen um Merkels Gesundheit nicht heillos ins Kraut schießen, dazu tragen auch etliche Experten bei. Sie halten Merkels Zittern für harmlos und wollen sich weder mit Ferndiagnosen aufspielen noch das passagere Leiden der Kanzlerin übertreiben oder pathologisieren. Sich "durchchecken" zu lassen, spricht zwar für einen TÜV-geprägten Glauben an das Maschinenmodell vom Menschen, hilft aber meist nicht weiter und vermittelt nur Scheinsicherheit. Vermutlich würde nichts Auffälliges gefunden werden, das Zittern könnte trotzdem noch eine Weile anhalten. So wie Angela Merkel damit umgeht, wird es wohl mit der Zeit verschwinden - dafür sollte sie sich die nötige Zeit nehmen.

© SZ vom 12.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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