Medizin:Nehmt die Psyche ernster

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Psychische Erkrankungen - sei es Depression, Borderline, Burnout, Angst oder Sucht - sind häufiger, als man es im Alltag wahrnimmt. (Foto: Andrew Ostrovsky; Bearbeitung SZ/PantherMedia)

Was heißt schon "richtig" krank? Seelische Faktoren gelten als Verharmlosung, wenn es um die Bewertung von Krankheiten geht. Was für ein Missverständnis - zum Schaden der Patienten.

Kommentar von Werner Bartens

Die Hierarchie ist klar: Wenn nach dem Wochenende Krankschreibungen ausgestellt werden, zählt der Knochenbruch mehr als der Nervenzusammenbruch. Der Sturz während der waghalsigen Klettertour taugt zur Heldengeschichte, die Panikattacke nach seelischer Überlastung wird hingegen eher verschwiegen. Psychisches Leid gilt immer noch als persönliche Schwäche, als individuelles Versagen, daran haben auch beharrliche Aufklärung und Enttabuisierung wenig geändert. Zwar wird nicht mehr als "verrückt" abgestempelt, wer Hilfe beim Therapeuten sucht, doch noch immer stehen Betroffene unter Generalverdacht, Luxusprobleme zu haben oder sich ihre Beschwerden nur einzubilden.

Dabei sind die Befunde eindeutig. Mindestens 40 Prozent aller Patienten, die niedergelassene Ärzte aufsuchen, klagen über funktionelle Beschwerden, wie psychosomatische Leiden auch genannt werden. Herzrhythmusstörungen, Schwindel, Schmerzen, Schwäche, Magen-Darm-Beschwerden gehören dazu. Die Symptome sind real, sie können heftig ausfallen - es lässt sich aber keine organische Ursache finden. Es ist ein großer Irrtum und zum Schaden der Patienten, solche Beschwerden als "eingebildet" oder nicht schwerwiegend abzutun. Dennoch gelten Kreuzweh, Herzrasen oder Verdauungsstörungen für etliche Patienten - und viele Ärzte - erst dann als "richtige" Erkrankungen, wenn sie durch Röntgenbilder, Laborwerte oder andere Messverfahren beglaubigt werden. Auch im Streit um die Hintergründe von Leiden wie Long Covid, chronischer Erschöpfung oder chronischer Borreliose, bei denen die Selbstwahrnehmung der Patienten eine wichtige Rolle spielt, wird erbittert darum gerungen, die Beschwerden nicht als "nur psychisch" zu bewerten.

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Von Werner Bartens

Was für ein Missverständnis! Bei allen Erkrankungen spielt die Psyche eine Rolle, sei es für die Entstehung, die Schwere der Symptome oder die Chronifizierung eines Leidens. Veränderte Laborwerte oder auffällige Röntgenbilder stehen nicht im Widerspruch dazu, im Gegenteil. Eine im Wortsinne ganzheitliche Medizin bezieht immer beides, Körper und Seele, mit ein und umfasst deshalb auch psychotherapeutische Verfahren. Zudem gehört es zum Menschsein, in belastenden Situationen anfälliger für Krankheiten und empfindlicher für Schmerzen zu sein, das ist völlig normal. Die Psyche muss ernster genommen werden - in der Medizin sowieso, aber auch im Selbstverständnis von Patienten und solchen, die es nicht werden wollen.

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