Gibt es diese Kinder noch, die von früh bis spät durchs Gras toben, zwischendurch ein bisschen kuscheln und Bauklötze stapeln? Die abends, das windzerzauste Haar gebürstet, glücklich und prompt hineingleiten in den ungetrübten Schlaf? Die dann wieder voller Überschwang aufwachen, weil es da draußen ja so viel zu entdecken gibt: Blätter, Bilderbücher, Ballspiele? Was für viele Bewohner der westlichen Zivilisation eher nach Nostalgie klingt, hat die Weltgesundheitsorganisation WHO soeben zum Idealzustand erklärt. Erstmals hat die Behörde offizielle Empfehlungen vorgelegt, wie der Alltag kleiner Kinder aussehen sollte.
Der optimale Tag von unter Fünfjährigen ist demnach weitgehend frei von Bildschirmen aller Art. Frühestens mit zwei Jahren sollten Kinder Zugang zu Fernsehern und Smartphones bekommen - begrenzt auf maximal eine Stunde täglich. Das ist immerhin eine halbe Stunde mehr, als es die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Deutschland für zuträglich hält.
Die WHO folgt mit ihren Grenzwerten unter anderem den nationalen Leitlinien, die kanadische Wissenschaftler vorgelegt haben. Diese hatten ihre Einschätzung vor allem damit begründet, dass die aufgemotzten, oft mit viel Aufwand auf Kindertauglichkeit getrimmten Programme der digitalen Medien weniger Lernerfahrungen bieten als altmodische Bilderbücher oder Spiele, dafür aber ausgesprochen verführerisch sind. Auch die WHO-Richtlinie hält Puzzeln, Malen oder Geschichten-Lauschen für wertvoller als den Konsum elektronischer Medien. Grundsätzlich wollen die WHO-Experten jedoch jede Art von sitzender Tätigkeit begrenzen.
Autositze, Kinderwägen und Tragetücher sollten nie länger als eine Stunde verwendet werden
Das gilt ganz besonders für Sitzmöglichkeiten, in denen Kinder angeschnallt oder anderweitig in ihren Bewegungen eingeschränkt sind: Autositze, Kinderwägen, Hochstühle und Tragetücher sollten nach Einschätzung der Behörde nie länger als eine Stunde benutzt werden. Kinder, die sich so frei wie möglich bewegen können, hätten bessere Gesundheitswerte, heißt es etwas nebulös in der Begründung.
Über körperliche Bewegung sagt die WHO-Leitlinie: Je mehr, desto besser. Schon Babys sollten mindestens 30 Minuten ihrer wachen Zeit auf dem Bauch verbringen, weil dies wahrscheinlich die motorische Entwicklung fördert. Sobald sie sich vorwärts bewegen können, sollten sie dem Drang dazu möglichst häufig nachgeben dürfen. Für alle Kinder über einem Jahr werden mindestens drei Stunden körperliche Aktivität pro Tag empfohlen. Darunter verstehen die Autoren alles zwischen normalem Laufen bis zum atemraubenden Rennen.
Auch für den Schlaf liefern die Experten genaue Werte. In den ersten drei Monaten sollten die Kleinen insgesamt 14 bis 17 Stunden täglich schlafen, in den folgenden neun Monaten zwölf bis 16 Stunden. Für Ein- und Zweijährige wird eine Bettruhe von elf bis 14 Stunden empfohlen, in den darauffolgenden zwei Jahren sind zehn bis 13 Stunden ausreichend.
Die Autoren begründen all diese Empfehlungen in erster Linie mit der Prävention von Übergewicht, die frühestmöglich beginnen sollte. Die Kombination aus viel Bewegung, wenig Bildschirmzeit und ausreichend Schlaf erscheint dabei erfolgversprechend. Es gibt beispielsweise Hinweise darauf, dass zu wenig Schlaf zu Trägheit und damit zu Übergewicht führen kann. Dagegen scheint tägliche, ausgiebige Bewegung mit einem geringeren Risiko für zu viele Pfunde einherzugehen. Studien legen zudem nahe, dass Bewegung und guter Schlaf die motorische, kognitive und psychische Entwicklung von Kindern positiv beeinflussen können.
Insgesamt aber ist die Qualität der Evidenz für Empfehlungen in dieser Altersgruppe sehr gering, wie die WHO einräumt. Am sichersten lassen sich die Ratschläge damit begründen, dass viel Bewegung gesunden Kindern zumindest nicht schadet.
Die Umsetzung der Empfehlungen setzt Zeit, Muße und Hartnäckigkeit voraus
Erschwerend kommt hinzu, dass die Experten nicht wirklich berücksichtigt haben, wie akzeptabel und praktikabel ihre Empfehlungen für die vielen unterschiedlichen Eltern dieser Welt sind. Die Umsetzung der Richtwerte setzt sichere Umgebungen, adäquate klimatische Bedingungen und passende kulturelle Normen voraus. Sie braucht Zeit, Muße, Hartnäckigkeit, über die nicht jeder verfügt.
Mancherorts müssen Frauen ihre kleinen Kinder über längere Zeiten auf dem Rücken tragen, um gleichzeitig einer Arbeit nachgehen zu können. Und selbst die mit viel Zeit gesegneten Eltern erleben immer wieder, dass ihr Angebot, ein pädagogisch wertvolles Buch über Wasserkreisläufe anzuschauen, kolossal scheitert, wenn gleichzeitig schrille Comic-Figuren über den Bildschirm toben. Konkrete Tipps oder gesundheitspolitische Maßnahmen, die Eltern bei der Bewegungsförderung unterstützen könnten, nennen die Autoren der Leitlinie nicht.