Gesundheitswesen:Medicus unter Druck

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Meilensteine der Medizin

Meilensteine der Medizin.

(Foto: Illustration: Sead Mujic)

Einst Patriarch, heute Leistungserbringer in einem wirtschaftlich geprägten Gesundheitssystem: Der Arztberuf wandelt sich - mit deutlichen Folgen für die Patienten.

Von Berit Uhlmann

"Meine Herren, das ist kein Humbug", sagte der Arzt John Warren 1846, als sein Patient vor dem versammelten Ärztekollegium die Augen aufschlug. Die Mediziner waren gerade Zeuge der weltweit ersten Narkose geworden. Der Patient hatte Ätherdämpfe eingeatmet und nicht gespürt, wie der Chirurg ihm einen Tumor aus dem Nacken entfernte. Es war ein Meilenstein auf dem Weg zur modernen Chirurgie. Von nun an blieben dem Patienten viel Pein und Panik erspart. Von nun an wurde aber auch bedingungsloses Vertrauen verlangt, denn der Kranke lieferte sich dem Arzt mehr denn je aus.

Es war die Zeit, als die Wissenschaft in die Medizin einzog, und der Arzt eine ganz neue Rolle bekam: Er war mehr als zuvor ein Wissender, ein Mann mit Macht, ein Patriarch. "Der Arzt sei bestimmt und sicher in seinen Anordnungen, er befehle, und je kürzer der Befehl, desto pünktlicher kann er befolgt werden, desto mehr Vertrauen wird der Arzt dem Patienten einflößen", hieß es 1896 in einem Ratgeber für Mediziner. Heute muss der Arzt mehrere, einander teils widersprechende Rollen ausfüllen. Er ist noch immer Wissenschaftler, aber in einer Welt, in der Wissen exponentiell wächst. Er soll ein Partner des Patienten sein und gemeinsam mit ihm die bestmögliche Lösung für seine individuelle Lage finden. Zugleich aber ist er "Leistungserbringer" in einem Gesundheitssystem, in dem wirtschaftliche Überlegungen zunehmend an Bedeutung gewinnen, sagt der Medizinethiker Professor Georg Marckmann von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).

Wie kann der Arzt den hochkomplexen Anforderungen gerecht werden? Wie wirken sich diese Forderungen auf die Patienten aus? Antworten suchten Experten auf einem Gesundheitsforum, das die Süddeutsche Zeitung gemeinsam mit der Evangelischen Akademie in Tutzing veranstaltete.

Als Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Medizinzeitschriften erschienen, war der Markt noch übersichtlich. Heute gibt es mehr als 20 000 Journale für Ärzte, 2014 wurden jeden Tag etwa 3250 Studien veröffentlichen, sagt Professor Markus Rehm von der Klinik für Anästhesiologie der LMU: "Kein Mensch kann das alles lesen." Um auch nur halbwegs den Überblick zu behalten, müssen sich die Mediziner spezialisieren. Es gibt 33 Fachgebiete und fast 50 Zusatz-Weiterbildungen für Ärzte - von Flugmedizin bis Handchirurgie. Begleiteten Ärzte ihre Patienten früher bei allen Leiden von der Wiege bis zur Bahre, behandeln viele Mediziner heute nur noch ein einziges Organ. Nur leider folgen die menschlichen Leiden diesen Spezialisierungen nicht.

Gerade bei hochkomplexen Erkrankungen wie Krebs oder bei schwer zu diagnostizierenden Symptomen wie chronischen Schmerzen reicht der eine Spezialist nicht mehr aus. Also wird von ihm die Kehrtwende erwartet; er soll das große Ganze in den Blick nehmen und sich interdisziplinär vernetzen. Die mühsam errungene Spezialisierung scheint dann bedroht zu sein. Es wird um Vorrechte, mitunter auch um Macht und Ansehen gerungen, sagt Monika Dorfmüller, ehemalige leitende Psychologin der Städtischen Kliniken in München. Professor Karl-Walter Jauch, Ärztlicher Direktor des Klinikums Großhadern, weiß aus eigener Erfahrung: "Das interdisziplinäre Arbeiten kann auch dann sehr schwierig werden, wenn es um Mittelverteilung geht."

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