Ethik in der Medizin:Irrwege der Heilung

Lesezeit: 4 Min.

Patienten fühlen sich im Gesundheitswesen oft verloren. (Foto: Illustration: Ilona Burgarth)

Bald werden die Babyboomer alt. Die Forschung entwickelt sich so rasant, dass Ärzte kaum folgen können. Um die gewaltigen Herausforderungen des Gesundheitswesens zu bewältigen, müssen alle Beteiligten umdenken - auch die Patienten.

Von Berit Uhlmann

"Was passiert jetzt?", fragte der Patient, der gerade mit dem Krankenwagen in die Klinik gebracht worden war. "Bleiben Sie sitzen, jemand wird kommen", antwortete der Fahrer des Ambulanzwagens und ließ den Ankömmling im Rollstuhl zurück - allein im Korridor neben der Männertoilette, mit dem Gesicht zur Wand. "Ich fühlte mich gedemütigt. Invalide. Eine Wasserpfütze sickerte unter der Toilettentür durch." Mit diesen Eindrücken beginnt ein langer Krankenhausaufenthalt, den der britische Sänger und Autor Ben Watt in seinem Buch "Patient" beschreibt.

Die Szene spielt 1992 in England. Doch auch jeder heutige Kranke, der genug Zeit in einer deutschen Klinik verbringt, kann von ähnlichen Erlebnisse berichten: langes Warten im Flur im hinten offenen Flügelhemd, ein winziges Bad für zu viele Patienten, ein entsetzlich kompliziertes Prozedere, um eine Fernbedienung für den Fernseher zu erhalten. Und jeder Arzt, der ausreichend lange Einblicke in das Krankenhausleben hat, kann eine Menge Gründe dafür nennen: das Abrechnungssystem, das Zuwendung kaum berücksichtigt, die Bürokratie im Gesundheitswesen, die Überlastung der Angestellten, der allgegenwärtige Personalmangel.

"Wir stellen jedes Quartal neue Schwestern ein", sagt Reiner Gradinger, ärztlicher Direktor des Klinikums rechts der Isar. Da es in Deutschland schon lange nicht mehr genug Pflegekräfte gibt, kommen viele von ihnen aus dem Ausland. Spätestens nach einigen Jahren kehren die meisten von ihnen wieder heim. Eine Besserung ist nicht in Sicht.

Im Gegenteil: Das Gesundheitswesen steht vor gewaltigen Herausforderungen. "Um das Jahr 2030 herum geht die Generation der Babyboomer in Rente", sagt der französische Gesundheitsökonom Jean de Kervasdoué. Wer soll diese Menschen versorgen, wenn sich bei ihnen die typischen Alterskrankheiten einstellen? Die Forschung entwickelt sich rasant weiter - innerhalb weniger Jahre verdoppeln sich die Erkenntnisse. Um Schritt halten zu können, spezialisieren sich Mediziner immer stärker. "In den USA gibt es Chirurgen, die nur noch eine einzelne Operation ausführen", sagt Kervasdoué. Wie vermeidet man Bruchstellen im Informationsfluss zwischen all den Fachärzten? Wer sieht noch den ganzen Menschen?

Gerade wird in Deutschland über eine neue Krankenhausreform debattiert. Sie soll 2016 in Kraft treten, doch Ruth Nowak, Ministerialdirektorin des bayerischen Gesundheitsministeriums, ist jetzt schon sicher, dass dies nicht die letzte Änderung sein wird. Denn das Krankenhaus ist eine "Dauerbaustelle".

Die Heilkunde hat nicht nur viele akute Probleme, sondern ist auch mit einer Art Grundleiden geschlagen: "der Beaumolschen Kostenkrankheit", so der Ökonom Kervasdoué. Während die Kosten zunehmen, lässt sich die Leistung kaum steigern. So wie ein Violinist nicht immer effektiver geigen kann, kann ein Arzt nicht noch rascher heilen, eine Krankenschwester ihre Patienten nicht noch schneller pflegen, es sei denn, sie würde an Qualität oder Menschlichkeit sparen. Dass aber beide unabdingbar für das Krankenhaus sind, stand für alle Experten außer Frage, als sie auf dem Gesundheitsforum der Süddeutschen Zeitung und der Katholischen Akademie in Bayern diskutierten. "Vergessen wir unsere humanistischen Werte nicht!", mahnte Kervasdoué.

Finanzierung der Kliniken
:In der Medizinfabrik

Die Ökonomisierung zwingt Kliniken zu sparen oder fragwürdige Behandlungen anzubieten. Ärzte und Pfleger sind überlastet und müssen sich immer wieder die Frage stellen: Geld oder Güte? Ihre Antwort betrifft uns alle.

Von Berit Uhlmann

Wie aber kann in Zeiten von Kostendruck und zunehmender Arbeitsüberlastung ein menschliches Krankenhaus gelingen? Bezeichnenderweise beginnt der Sozialethiker Clemens Sedmak seine Beschreibung damit, wie die Klinik nicht sein sollte: "nicht toxisch", nennt er als wichtiges Kriterium und meint damit eine Einrichtung, in der Stress vermieden wird. Wer einen hilflosen Patienten mit dem Gesicht zur Wand abstellt, ohne dass dieser eine Ahnung hat, was als Nächstes mit ihm passiert, setzt ihn unnötigen Belastungen aus. Ein menschliches Krankenhaus dagegen ist verlässlich und berechenbar. Die Patienten bekommen klare Informationen darüber, was sie erwartet.

Ein menschliches Krankenhaus demütigt auch nicht. Erniedrigung, so Sedmak, entsteht durch Verletzungen der Intimsphäre, aber auch durch das Gefühl, nicht als Mensch gesehen zu werden, sondern als Fall. "Die Ärzte glitten von einem flackernden Monitor zum anderen", beschreibt der britische Patient Watt die Visite auf der Intensivstation: "Ich hatte niemals ein Gespräch mit einem von ihnen, schnappte lediglich ein paar Fakten auf, während sie untereinander murmelten."

Menschlichkeit in der Klinik verlangt zudem Mitgefühl, erläutert der Ethiker weiter. Eine verständliche Sprache gehört dazu und die Einsicht, dass "Details einen großen Unterschied machen". "Es gibt Studien darüber, wie groß der Frust bei Angestellten ist, wenn die Kaffeemaschine nicht funktioniert und nicht repariert wird." Analog dazu deprimiert es Patienten, wenn der Bildschirm flackert oder das Telefon kaputt ist. Wer mehr Menschlichkeit erreichen will, darf auch die Mitarbeiter nicht vergessen. Wer klar kommuniziert und führt, wer Anerkennung zollt, hat zufriedenere Angestellte.

Das Ganze ist für Sedmak kein Wunschdenken und nicht unbezahlbar. Menschlichkeit und ethische Grundsätze könnten sogar kostendämpfend wirken: "Wer in Mitarbeiter investiert, die hohe moralische Ansprüche haben, spart viel Geld." Denn am Ende wird ihre Leistung besser sein. Und ein Klima der Menschlichkeit kann zum Wettbewerbsvorteil werden. Dabei muss der Patient nicht immer das Maximum bekommen. Mitunter genügen schon "Inseln der Integrität". So kann sich das Personal für das wöchentliche Bad eines alten Menschen nicht nur 20 Minuten, sondern eine Stunde Zeit nehmen - und ihn so für nötige Entbehrungen zu entschädigen. Das setzt allerdings voraus, dass die Patienten ehrlich über die Grenzen des Machbaren aufgeklärt werden.

Wem permanente Gesundheit und eine allzeit beste Behandlung versprochen werden, der entwickelt unrealistische Erwartungen. Sedmak verweist auf Ben Watt, der beschreibt, wie er bisweilen jegliche Verantwortung abgeben wollte. Patienten muss ehrlich gesagt werden, dass sie möglicherweise auch Einschränkungen ihrer Gesundheit hinnehmen müssen, sagt Sedmak. Dass sie manchmal ihre Lebensziele neu justieren müssen, um mit ihrer Krankheit umgehen zu können. Diese Ehrlichkeit trägt letztlich dazu bei, dass das wichtigste Gut des Gesundheitswesens erhalten bleibt: Vertrauen zwischen den Kranken und denen, die ihnen helfen wollen.

© SZ vom 21.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: