Wer ein Herz hat, dem muss die Geschichte von Mary Pazdur nahegehen. Die blonde, lebenslustige Frau arbeitete jahrelang als Krankenschwester in der Krebsmedizin. 2012 erkrankte sie selbst an Eierstockkrebs. Sie hatte schon viele Patientinnen daran leiden und sterben sehen und wusste daher aus eigener Anschauung, wie sehr sich Betroffene Hoffnung machen, wenn mit neuen Therapiemethoden die Aussicht auf Heilung oder zumindest auf ein paar Monate mehr Lebenszeit befeuert wird.
Ob derartige Behandlungsverfahren gegen Krebs in den USA zugelassen werden, ist erheblich von dem Votum eines Mannes abhängig - Richard Pazdur. Der Arzt leitet seit 1999 die Abteilung für Krebsmedikamente der mächtigen Arzneimittelbehörde FDA, die über Zulassungsanträge für neue Pharmaka entscheidet. Und er ist Mary Pazdurs Ehemann. Was macht es mit einem Menschen, wenn sich durch einen Schicksalsschlag im Familienkreis plötzlich berufliche Anforderungen und private Nöte kreuzen? Schließlich hat Pazdur mit darüber zu entscheiden, wie schnell Medikamente gegen Krebs auf den Markt kommen - mithin über Behandlungen, die seiner kranken Frau helfen könnten.
"Ich habe inzwischen einen größeren Sinn für Dringlichkeit", sagte Richard Pazdur kürzlich in einem Interview der New York Times. "Ich bin auf dem Kreuzzug, um die Begutachtung zu beschleunigen und Anträge schneller abzuschließen." Klar, die Krankheit seiner Frau sei einer der Faktoren gewesen, die ihn zum Richtungswechsel bewegt hätten, gibt der Krebsarzt zu, dem früher eine streng wissenschaftlich abwägende Haltung zugebilligt wurde.
Der aufsehenerregende Fall des Ehepaars Pazdur
Fortschritte in der Forschung und ein 2012 verabschiedetes Gesetz, dass eine engere Zusammenarbeit der FDA mit den Arzneimittelherstellern gefördert habe, hätten aber ebenfalls dazu beigetragen, dass er Patienten neue Medikamente schneller verfügbar machen will.
Der Aufsehen erregende Fall des Ehepaars Pazdur und ihre persönliche Verquickung haben eine Diskussion wieder aufflammen lassen, die von Aids-Aktivisten zu Beginn der 1990er-Jahre aufgebracht wurde: Können Todkranke wirklich darauf warten, bis ein neues Medikament alle Hürden der Zulassung genommen hat? Ist es Menschen zuzumuten, alle bürokratischen Regularien des Gesundheitssystems zu ertragen, wenn sie nur noch kurze Zeit zu leben haben?
Trügerischer Therapieerfolg: Die Laborwerte sind zwar besser, doch es sterben mehr Menschen
"Klar, bürokratische Verzögerungen müssen aus der Welt geschafft werden und die maximale Geschwindigkeit der Zulassung ist natürlich wünschenswert", sagt Gerd Antes, der in Freiburg das Cochrane-Zentrum leitet, das die Qualität klinischer Studien bewertet. "Aber es gibt zu viele Beispiele für Irrwege und auf die Abwägung von Schaden und Nutzen darf niemals verzichtet werden." Schon länger versuche die Industrie, die Schranken für die Zulassung immer niedriger anzusetzen. "Das ist der falsche Weg - und als Arzt muss man schließlich auch den Grundsatz beherzigen, nicht zu schaden."
Für Wolf-Dieter Ludwig sind die Anforderungen an die Zulassung neuer Krebsmittel "eh schon zu lasch - und sie werden immer weiter aufgeweicht". Der Onkologe ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und sieht als Chefarzt der Krebsmedizin in Berlin-Buch jeden Tag Patienten, die nicht mehr lange zu leben haben.
"Von den zehn Krebsmitteln, die 2014 neu auf den Markt kamen, sind neun beschleunigt zugelassen worden", so Ludwig. "Die Kenntnisse, die man bei beschleunigter Zulassung hat, sind naturgemäß geringer. Die Unsicherheit steigt und man kann immer weniger darüber sagen, wie gut die Mittel wirken und ob sie sicher genug für Patienten sind."
Viele neue Krebsmittel verlängern die Lebenszeit der Betroffenen gerade mal um vier oder sechs Wochen
Die Unsicherheit wäre zwar eher zu verkraften, wenn zuverlässige Daten zu Wirkungen und Nebenwirkungen nach der Zulassung nachgeliefert würden. Doch auch das sei nur selten der Fall, kritisiert Ludwig. Viele neue Krebsmittel, die bei Schwerkranken und Angehörigen Hoffnung auslösen, verlängern die Lebenszeit der Betroffenen gerade mal um vier oder sechs Wochen - und das oft auf Kosten schwerster Nebenwirkungen und Komplikationen.
"Es heißt ja oft, bei Krebskranken im fortgeschrittenen Stadium sei jede Nebenwirkung egal - aber das stimmt doch nicht", sagt Gerd Antes. "Die Zeit, die einem bleibt und die man für den Abschied von der Familie braucht, kann dadurch extrem belastet werden." Mary Pazdur hatte im Verlauf ihrer Erkrankung irgendwann einer neuen experimentellen Therapie zugestimmt, an deren Zulassung ihr Mann allerdings nicht beteiligt war. Sie litt unter starken Nebenwirkungen, ihr Herz schwoll an, der Blutdruck sank und sie fühlte sich so schwach, dass sie kaum den Weg ins Badezimmer zurücklegen konnte und die Behandlung abbrechen musste.
Nach dieser Erfahrung ließ sich Mary Pazdur auf keine unerprobte Therapiemethode mehr ein, sondern begab sich zur Betreuung in ein Hospiz, als es ihr zunehmend schlechter ging. "Statt dass Forscher und Ärzte die Toxizität von Medikamenten erheben, sollten wir endlich anfangen, die Patienten selbst die Nebenwirkungen beurteilen zu lassen", fordert Richard Pazdur. "Das ist ein wichtiges Thema und bisher vernachlässigt."