Hirnforschung:Wenn die Welt dauernd Kopf steht

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Claudio lacht in die Kamera, sein Kopf liegt so, wie er immer liegt: zwischen seinen Schulterblättern. (Foto: Brad Duchaine)

Ein 42-Jähriger sieht die Welt verkehrt herum. So half er Neurowissenschaftlern zu verstehen, weshalb Menschen so schlecht darin sind, auf dem Kopf stehende Bilder von Gesichtern zu erkennen.

Von Christina Berndt

Für Claudio steht die Welt Kopf, jeden Tag. Der 42-Jährige wurde wegen einer Gelenkerkrankung mit einer extrem deformierten Wirbelsäule geboren. Er trägt seinen Kopf deshalb um 180 Grad nach hinten abgeknickt - als würde er ihn weit in den Nacken legen. Daher sieht er alles, was ihn umgibt, auf dem Kopf. Mit seinem so besonderen Blick auf die Welt hat der Steuerberater nun der Wissenschaft geholfen zu verstehen, weshalb Menschen üblicherweise so schlecht darin sind, die Welt verkehrt herum zu betrachten.

Gesichter zu erkennen und wiederzuerkennen, darin ist der menschliche Geist herausragend - es ist schließlich extrem wichtig zu wissen, ob man beobachtet wird, womöglich angegriffen oder ob man mit einer Person schon einmal gute oder schlechte Erfahrungen gemacht hat. Allerdings gilt die herausragende Fähigkeit zur Gesichtserkennung nur, solange die Gesichter auch so ausgerichtet sind, wie sie es meistens sind, seit der Mensch den aufrechten Gang erfunden hat. Wenn Fotos von Gesichtern auf den Kopf gehalten werden, dann bricht die Exzellenz des menschlichen Geistes dramatisch ein.

Aber weshalb ist das so? Liegt es lediglich an der Gewohnheit, weil der Mensch Gesichter nun einmal meistens aufrecht sieht? Oder liegt es an einer speziellen Verschaltung im Gehirn, die sich im Laufe der Evolution entwickelt hat? Für beide Möglichkeiten gibt es Belege. So zeigen neugeborene Babys in Studien bereits eine Präferenz für aufrechte Gesichter, obwohl sie noch fast keine visuelle Erfahrung mit Menschen haben - das spricht dafür, dass die Evolution eine Rolle spielt. Doch andere Studien zeigen, dass auch Erfahrung nicht zu vernachlässigen ist, denn Probanden werden besser darin, auf den Kopf gedrehte Gesichter zu erkennen, wenn sie das am Computer üben.

Die beiden möglichen Ursachen lassen sich nicht leicht voneinander trennen, weil Menschen ja immer beidem unterliegen - der Gewohnheit und dem, was ihnen ihre Vorfahren vererbt haben. Doch für den jungen Mann mit der Wirbelsäulenverformung gilt natürlich nicht, was für andere Menschen gilt. Seit er als Achtjähriger gelernt hat, auf den Knien zu sitzen und zu laufen, sieht er die Gesichter von Menschen, mit denen er zu tun hat, in der Regel falsch herum. Seine Gewöhnung an Gesichter ist also fundamental anders als die anderer Menschen. Ein Bild von Georg Baselitz, der Personen gerne auf dem Kopf malt, ist für ihn ein Abbild der Wirklichkeit, ein ganz normales Porträt.

Claudio mit einer Wissenschaftlerin während der Gesichtserkennungstests in seinem Zuhause. (Foto: Brad Duchaine)

So machten Neurowissenschaftler um Brad Duchaine vom Dartmouth College in New Hampshire drei verschiedene Arten von Tests mit dem Mann, den sie lediglich mit seinem Vornamen vorstellen. Sie verglichen seine Fähigkeiten mit denen von Menschen, die ihren Kopf auf gewöhnliche Art tragen: Alle Probanden sollten in schwarz-weißen Schattenbildern Gesichter finden - aufrechte und auf dem Kopf stehende; sie sollten zudem einschätzen, ob es sich bei Gesichtern aus etwas veränderten Perspektiven um denselben Menschen handelt - wieder wurden die Gesichter zum Teil aufrecht und zum Teil umgedreht gezeigt; und schließlich wurde untersucht, wie stark die Testpersonen der "Thatcher-Illusion" unterlagen. Diese beschreibt einen seit 1980 bekannten Effekt, wonach Menschen es sofort bemerken, wenn in einem normalen Foto die Augen und der Mund um 180 Grad gedreht wurden, während sie dies in einem auf den Kopf gedrehten Foto nur schwer oder gar nicht sehen. Der Test wurde ursprünglich mit einem Foto der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher gemacht, daher der Name.

Claudio hat keine Probleme mit auf den Kopf gestellten Gesichtern

Tatsächlich hatte Claudio im Gegensatz zu anderen Menschen gar kein Problem damit, Gesichter zu identifizieren, die auf den Kopf gehalten wurden. Aber er hatte auch kein Problem mit gewöhnlichen Abbildungen, wie die Neurowissenschaftler aktuell im Wissenschaftsjournal iScience berichten: Es war für ihn sowohl beim Erkennen von Gesichtern als auch beim Wiedererkennen nahezu egal, wie herum ihm die Bilder gezeigt wurden.

"Das spricht dafür, dass sowohl Erfahrung als auch Evolution bei der Gesichtserkennung eine Rolle spielen", sagt Brad Duchaine. Während die Lebenserfahrung und die evolutionär vererbten Hirnwindungen bei gesunden Menschen parallel dafür sorgen, dass sie mit aufrechten Gesichtern besser klarkommen, lehrt die Erfahrung Claudio das Erkennen von umgedrehten Gesichtern, während sein evolutionäres Erbe ihm auch ein gutes Erkennen von aufrechten Gesichtern ermöglicht.

Auch beim Thatcher-Test war Claudio übrigens im Vergleich zu den anderen Testpersonen außergewöhnlich gut mit umgedrehten Gesichtern. Weshalb das so ist, können die Forschenden nicht wirklich erklären. Sie nehmen an, dass für diese Aufgabe Erfahrung wichtiger ist als natürliches Erbe, weil es sich um einen sehr artifiziellen Test handelt, der im Leben von Menschen keine Rolle spielt. Womöglich spielen auch ganz andere visuelle Prozesse als bei der Gesichtserkennung eine Rolle. Dem wollen sie in weiteren Studien nachgehen - mit Claudios Hilfe.

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