Reinhard Berner ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Technischen Universität Dresden und war von 2005 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie.
Süddeutsche.de: Immer wieder schleppen vor allem Kinder Erkältungen mit nach Hause. Warum ist das so?
Reinhard Berner: Das liegt am Immunsystem von Kindern. Was wir unter Erkältungskrankheiten verstehen, sind im Allgemeinen Infektionen der oberen Atemwege. Es gibt hunderte Viren, die eine solche Infektion hervorrufen können. Erwachsene haben schon 30 oder 40 solcher Infektionen hinter sich und sind deswegen gegen viele Erreger immun. Bei Kindern, vor allem wenn sie klein sind, ist das noch nicht der Fall.
Süddeutsche.de: Und Kinder gehen in den Kindergarten...
Berner: Genau, an solchen Orten können sich die Kinder natürlich rasch gegenseitig infizieren. Ein Kind ist krank, dann lecken alle dasselbe Spielzeug ab oder trinken aus derselben Tasse, und schon verbreitet sich der Erreger. In Kindergärten oder Kindertagesstätten ist die Übertragungswahrscheinlichkeit einfach um Dimensionen höher.
Süddeutsche.de: Haben Kinder auch stärkere Symptome als Erwachsene?
Berner: Ja. Die Virusinfektionen betreffen die Schleimhäute, die dann anschwellen - das kennen wir alle, wenn die Nase bei einer Erkältung zugeht. Die Atemwege sind besonders bei sehr kleinen Kindern viel enger. Eine leichte Schwellung führt bei einer kleinen Öffnung sehr viel eher zum Verschluss als beim Erwachsenen. Entzündet sich zum Beispiel der Kehlkopf, dann haben Erwachsene ein bisschen Heiserkeit und trockenen Husten. Beim ein- oder zweijährigen Kind schwillt aber alles so zu, dass kaum mehr Luft am Kehlkopf vorbei kommt. Das Gleiche gilt für das Mittelohr: Auch hier verschließt sich durch die Schleimhautschwellung der Verbindungsgang zwischen Rachen und Ohr viel schneller, dann kommen Bakterien dazu und ruck zuck hat ein Kind eine Mittelohrentzündung.
Süddeutsche.de: Wie viele Erkältungen sind denn bei Kindern normal?
Berner: Man sagt, dass ein Kind in den ersten beiden Lebensjahren bis zu zwölf fieberhafte Infektionen pro Jahr haben kann. Das bezieht sich zwar nicht nur auf Erkältungen, ist aber eine Menge. Man muss sich das mal vorstellen: Wenn ein Kind ein paar Tage Fieber hat, und das zwölfmal im Jahr, dann ist es ein Viertel des Jahres krank.
Süddeutsche.de: Als Mutter oder Vater muss ich mir dann noch keine Sorgen machen?
Berner: Es ist natürlich nicht jedes Kind derartig oft erkältet. Aber aus großen Bevölkerungsstudien weiß man tatsächlich, dass Kinder so häufig krank sein können, ohne an einer Immunschwäche zu leiden. Ob sich Eltern Sorgen machen sollten, hängt eher von der Schwere ab - wenn Kinder Lungenentzündungen entwickeln zum Beispiel.
Süddeutsche.de: Bei welchen Symptomen sollte ich mit meinem Kind unbedingt zum Arzt gehen?
Berner: Man kann da keine klaren Grenzen definieren. Ein Kind, das über 40 Grad Fieber hat, sollte im Allgemeinen schon zum Arzt - es gibt aber auch Kinder, die selbst hohe Temperaturen erstaunlich gut tolerieren und bei denen das Fieber oft auch schnell wieder abklingt. Kritisch wird es, wenn sich das Fieber mit den normalen Maßnahmen nicht senken lässt, oder das Kind nicht ausreichend Flüssigkeit zu sich nimmt, was sehr schnell zur Austrocknung führen kann. Und auch wenn die Atmung schlechter wird, sollte man den Arzt aufsuchen. Vorsicht ist aber vor allem angesagt, wenn das Kind in einem Zustand ist, von dem die Mutter sagt: "Das Kind gefällt mir nicht." Das kann zum Beispiel bedeuten, dass das Kind nur noch schlecht aufgeweckt werden kann, bei Berührungen wimmert oder kleine Blutflecken auf der Haut bekommt.
Süddeutsche.de: Wofür wären das Anzeichen?
Berner: Die große Sorge ist, dass eine Erkältungskrankheit zu einer Hirnhautentzündung oder Blutvergiftung führt, die letztendlich sehr gefährlich sein können. Die meisten Erkältungen sind aber harmlos.
Süddeutsche.de: Kann man Erkältungskrankheiten bei Kindern vorbeugen?
Berner: Eigentlich nicht. Man soll sein Kind natürlich vernünftig ernähren, es nicht in Watte einpacken und auch an die frische Luft setzen. In Familien mit zwei Kindern leidet das zweite Kind häufiger an Erkältungen, weil das größere Kind Infekte mit nach Hause bringt. Das ist aber kein Grund, die Kinder nicht in den Kindergarten zu bringen. Man muss das Risiko nur kennen, wenn eins der Kinder besonders anfällig ist.
Süddeutsche.de: Was kann ich akut gegen eine Erkrankung unternehmen?
Berner: Das Wichtigste ist darauf zu achten, dass die Kinder ausreichend viel trinken. Außerdem darf man durchaus auch fiebersenkende Mittel wie Ibuprofen oder Paracetamol verabreichen, wenn das Fieber zu stark ansteigt oder die Kinder wirklich leiden. Das kann man auch mit einem Brust- beziehungsweise Bauchwickel kombinieren. Dabei geht es aber nicht darum, den Körper in Coolpacks zu packen, sondern über körperwarme und feuchte Wickel Wärme zu entziehen.
Süddeutsche.de: Kann mein Kind trotz Erkältung in die Schule?
Berner: Ein Kind mit Fieber sollte man sicher nicht in die Schule schicken. Ansonsten hängt es davon ab, ob man seinem Kind zutraut, einen anstrengenden Vormittag in der Schule durchzuhalten.
Süddeutsche.de: Sollte ich mein Kind denn gegen die Grippe impfen lassen?
Berner: In vielen Ländern gibt es solche Empfehlungen. In den USA zum Beispiel sollen Kinder ab sechs Monaten jährlich gegen Influenza geimpft werden, weil es auch schwere und tödliche Verläufe gibt. In Deutschland empfiehlt die ständige Impfkommission die Immunisierung nur für Risikogruppen. Die sächsische Impfkommission wiederum teilt beispielsweise die Einschätzungen der USA und sagt: Jedes Kind ab dem sechsten Lebensmonat sollte geimpft werden, weil das Risiko für schwere Verläufe bei Kindern so hoch ist und weil Kinder maßgeblich an der Verbreitung der Grippe beteiligt sind. Diese Empfehlung würde ich auch unterstützen, meinen eigenen kleinen Sohn werde ich in diesem Herbst mit Sicherheit impfen.