Die moderne Milchproduktion hat nichts von Bauernhof-Romantik, sie ist eine hoch technologisierte Angelegenheit. Während viele Kinder nach dem Krieg noch mit der Milchkanne zum Bauern gingen, um das euterwarme Lebensmittel direkt nach Hause zu tragen, nimmt die Milch heute meist einen langen Weg, bevor sie beim Verbraucher landet. Das soll vor allem dessen Sicherheit dienen. Aber womöglich bringt es auch neue Krankheiten mit sich.
Üblicherweise wird die Milch nach dem maschinellen Melkvorgang erst einmal gekühlt und einige Tage gelagert, bevor sie zur Molkerei transportiert wird. Dort folgt die Pasteurisierung - die Milch wird auf über 70 Grad Celsius erhitzt und sofort wieder abgekühlt. Soll sie als H-Milch besonders lange haltbar sein, erfährt sie sogar Temperaturen von bis zu 150 Grad. Die ESL-Milch wird auf 135 Grad gebracht, wenn sie nicht durch Filtrieren länger haltbar gemacht wird. Erhitzen und Kühlen gewährleisten, dass die Milch keine schädlichen Keime, wie Campylobacter, Listeria oder die besonders gefährlichen Ehec-Bakterien enthält.
Wichtige Nährstoffgehalte wie Eiweiß, Kalzium und Vitamine werden durch das Pasteurisieren und das ESL-Verfahren zwar kaum beeinträchtigt. Dennoch könnte die Hitzebehandlung der Milch negative Folgen haben. Womöglich ist sie mitverantwortlich für die Zunahme von Allergien und Asthma in der Bevölkerung, geben Wissenschaftler zu bedenken.
Hinweise darauf liefern mittlerweile 15 epidemiologische Studien aus Ländern wie Deutschland, den USA und Australien. Eine griechische Studie vom Mai 2012 wies zudem darauf hin, dass Menschen mit Multipler Sklerose als Kind besonders selten Rohmilch getrunken haben - was an sich allerdings für sich betrachtet kaum Aussagekraft hat.
Somit interessiert sich die Forschung nunmehr für das mögliche gesundheitsfördernde Potenzial der Rohmilch. Im vergangenen Jahr fand in Prag ein Symposium zum Thema "Raw Milk - Health or Hazard?" statt. Dort wurden unter der Leitung von Ton Baars vom Schweizer Forschungsinstitut für Biologischen Anbau, die möglichen Vorteile und Gefahren des Rohmilch-Konsums diskutiert.
Zu den Wissenschaftlern, die Daten zur gesundheitsfördernden Wirkung der Rohmilch beigetragen haben, gehört die Allergologin Erika von Mutius von der Universität München. Im Rahmen der EU-geförderten Gabriel-Studie, die die Ursachen von Asthma und Allergien ergründen soll, hat Mutius gemeinsam mit Forschern aus Österreich und der Schweiz knapp 8000 Kinder aus ländlichen Regionen untersucht.
Demnach haben Kinder vom Bauernhof ein bedeutend geringeres Risiko, an Asthma, Heuschnupfen oder Neurodermitis zu erkranken. "Wir wissen heute", sagt Mutius, "dass zwei Faktoren dafür verantwortlich sind: der Aufenthalt im Stall und das Trinken von Rohmilch".
Doch Rohmilch hat auch ohne Stall eine schützende Wirkung, wie weitere Studien gezeigt haben. So erkrankten Bauernhofkinder in einer Untersuchung der Londoner St. George's University genauso häufig an Allergien wie Stadtkinder, wenn sie abgekochte Milch bekamen. Zudem haben Kinder, die Rohmilch trinken, aber nicht auf einem Bauernhof leben, ebenfalls ein geringeres Allergierisiko. Und, für die Beweiskraft besonders wichtig: Die Forscher fanden immer eine Dosis-Wirkungs-Beziehung. Der Schutz war also umso besser, je mehr Rohmilch die Kinder getrunken haben.
Eine Rolle spielen aber auch die Gene der Kinder. Offenbar sind nur solche Bauernhofkinder vor Allergien und Asthma geschützt, die eine bestimmte Variante der "Toll-like Rezeptoren" haben. Diese Moleküle sind Andockstellen im Immunsystem; sie erkennen als Erstes den Eintritt von Bakterien sowie anderen harmlosen oder schädlichen Substanzen.
Warum Stallluft und Rohmilch geradezu als Impfung gegen Allergien taugen, wird derzeit untersucht. Die Behandlung der Milch könnte auf zwei verschiedenen Wegen ungünstig sein. Einerseits werden harmlose probiotische Bakterien wie Laktobazillen in der Milch abgetötet, die im Darm siedeln und das angeborene Immunsystem stabilisieren. Zudem werden Eiweiße in der Milch durch Erhitzen und Homogenisieren zerstört. So sinkt der Anteil an Molkenprotein drastisch. Eine Auswertung der Gabriel-Studie vom vergangenen Jahr ergab aber: Nur wenn der Gehalt an Molkenprotein in der Milch sehr hoch ist, sind die Kinder vor Asthma geschützt.
Dabei gilt: Je früher die Prävention beginnt, desto erfolgreicher ist sie. Wenn Ungeborene bereits mit Rohmilch in Kontakt kommen, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft regelmäßig davon trinken, finden sich weniger IgE-Antikörper im Nabelschnurblut. Diese Antikörper sind die Hauptakteure bei Allergien. Schon bei der Geburt vermögen solche Kinder auch mehr antiallergische Botenstoffe zu produzieren. Dies sind jedoch bislang nur Hinweise. Es ist nicht eindeutig bewiesen, dass ein Stadt- oder Landkind, das nicht auf dem Bauernhof lebt, durch den Genuss von Rohmilch einen gesundheitlichen Vorteil hätte. Zugleich aber bestehen zweifelsohne Risiken durch den Rohmilchkonsum.
Von Eigenversuchen in Sachen Allergievorsorge rät das Gros der Wissenschaftler daher dringend ab. "Hier droht eine erhebliche Infektionsgefahr", sagt Berthold Koletzko, Ernährungsspezialist am Haunerschen Kinderspital der Universität München. Wenn Kinder einen Ausflug auf den Bauernhof machen, komme es immer wieder zu Krankheitsausbrüchen, meist zu Durchfallerkrankungen, warnt das Bundesinstitut für Risikobewertung.
Die Infektionen können schwerwiegende Folgen haben; so kann der Ehec-Erreger im Ernstfall zu bleibenden Nierenschäden und zum Tod führen. Auch Erika von Mutius rät von Rohmilch für Stadtkinder ab. Trotzdem hofft sie, dass ihre Forschung einmal für die Allergie-Prävention von Nutzen sein wird: "Wir wollen die Mechanismen verstehen", sagt sie. "Dann können wir vielleicht der behandelten Milch nachträglich zusetzen, was schützend wirkt." Das könnten zum Beispiel manche Molke-Eiweiße sein.
Derzeit ist der Verkauf von Rohmilch "ab Hof" nur mit dem Hinweis "Rohmilch, vor dem Verzehr abkochen" erlaubt. Auch die sogenannte Vorzugsmilch, die in Reformhäusern, Bioläden oder ab Hof zu erhalten ist, ist eine Rohmilch. Sie darf ausschließlich von zertifizierten Betrieben angeboten werden. "Vorzugsmilch hat eine ausgezeichnete hygienische Qualität, sie wird regelmäßig auf pathogene Keime kontrolliert", sagt Ton Baars. In den jährlich rund 100 Vorzugsmilch-Proben, die der Fachtierarzt für Milchhygiene Reinhard Tschischkale in den vergangenen 15 Jahren im Rahmen der Qualitätskontrolle in seinem Analyselabor untersucht hat, fanden sich nur in einer einzigen Probe Ehec-Bakterien. Trotzdem bestehe auch hier ein Restrisiko, räumt Baars ein. Daher lautet die amtliche Empfehlung, dass Vorzugsmilch nicht von Kleinkindern, Kranken oder immungeschwächten Personen verzehrt werden sollte.
Eine Alternative für Kinder ist Rohmilchkäse, vor allem länger gelagerter Hartkäse. Durch eine Lagerung von mehr als 60 Tagen wird gewährleistet, dass sich die erwünschten Bakterien gegen pathogene Besiedler durchsetzen. "Gesunde Kinder mit normaler Abwehrfunktion dürfen Rohmilchkäse verzehren", sagt Koletzko. Nur Schwangere sollten sicherheitshalber auch auf diesen von Feinschmeckern besonders geschätzten Käse verzichten, rät das Bundesamt für Risikobewertung. Denn eine Infektion mit dem Keim Listeria monocytogenes kann im schlimmsten Fall zum Abort führen.
Von solchen Warnungen lassen sich Menschen vor allem in ländlichen Gegenden offensichtlich nicht beeindrucken. Warum das so ist, hat der Soziologe Gareth Enticott von der walisischen Universität Cardiff untersucht. Er befragte im Jahr 2003 Mitglieder einer schottischen Gemeinde zum Gesundheitswert von unpasteurisierter Milch. Diese wurde als "gesünder" und sogar als "krebslindernd" tituliert. "Bestimmte Lebensmitteltechnologien werden in ländlichen Räumen abgelehnt, weil sie die eigene bäuerliche Identität beeinträchtigen", meint Enticott. Doch auch wenn Landwirte damit durchaus ein Risiko eingehen: Ihre Gesundheit und die ihrer Kinder profitiert offenbar davon.