Wir Menschen neigen dazu, lieber simple Begründungen zu glauben, statt nach komplexeren Erklärungen zu suchen. Auch der Fall Andreas Lubitz verleitet zu diesem Reflex.
Der Mann, der Germanwings-Flug 4U9525 wohl absichtlich in einer Katastrophe enden ließ, litt vermutlich an Depressionen. Depressive mögen eher zum Suizid neigen. Doch warum ließ Lubitz den Jet mit aller Wahrscheinlichkeit wissentlich zerschellen und nahm 149 Menschen mit sich in den Tod? Das jetzt schon allein mit seiner Krankheit zu erklären, wäre unseriös. Denn noch liegen längst nicht alle Fakten auf dem Tisch. Und so sehr die Diagnose "Depression" die Katastrophe zu erklären scheint, bietet sie gleichzeitig auch Anhaltspunkte für die Entkräftung dieser Erklärung. So empfinden Depressive häufig Schuldgefühle anderen Menschen gegenüber - und zwar oft genau dann, wenn es gar keinen Grund für solche Schuldgefühle gibt. Und doch impliziert die Berichterstattung über die Tragödie - in vielen Fällen indirekt - dass damit der Fall geklärt ist.
Das ist naiv und falsch. Denn was ist, wenn sich Lubitz mit seiner Krankheit allein gelassen fühlte? Krankschreibungen ignorierte er - womöglich aus Sorge vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes. Existenzängste sind zwar häufig ein typisches Symptom einer Depressionserkrankung, doch andererseits führt kaum eine andere Krankheit häufiger zur Berufsunfähigkeit. Wer sich da als Betroffener Sorgen um seine Zukunft macht, unterliegt also nicht unbedingt einer absurden Fehleinschätzung. Und im Fall der Germanwings-Katastrophe war das womöglich ein Teil des Problems.
Fakt ist: Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass depressive Menschen in aller Regel für andere gefährlicher sind als nicht-depressive. Doch das Vorurteil steht im Raum und forciert damit eine Stigmatisierung der Betroffenen, die über die Epochen hinweg besteht.
Depressiv zu sein bedeutet auch im liberalen Westen des 21. Jahrhunderts weit mehr als nur ein Manko. Die Betroffenen fühlen sich in Job und Familie oft geschnitten, wenn ihre Krankheit publik wird. Deswegen haben sie oft Angst davor, sich offen zu ihrem Leiden zu bekennen. Das ist vollkommen nachvollziehbar: Die Sorge ist berechtigt, in einem mental verunsicherten und geschwächten Zustand Ablehnung zu erfahren.
Angst vor Nachteilen
Darum schweigen viele der Betroffenen, sie kaschieren und verdrängen, oft bis zum Zusammenbruch. Bei Comedian Oliver Polak war das der Fall. Im Emsland, wo er aufgewachsen ist, galt es als ausgeschlossen, sich in Therapie zu begeben oder sich in der Psychiatrie behandeln zu lassen. "Da heißt es dann: 'Der ist verrückt', sagt Polak.
Das ist fatal, denn die Medizin kann Depressiven heute durchaus helfen. Geeignete Medikamente in Verbindung mit Gesprächstherapien lindern häufig die Symptome - bis hin zur Heilung. Wenn sich Betroffene wegen des Stigmas ihrer Krankheit also nicht in Behandlung begeben, entsteht eine diabolische Wechselwirkung zwischen dem Erkrankten und seinem Umfeld. Letzteres sorgt mit dafür, dass ersterer nicht gesunden kann, doch im schlimmsten Fall schlägt das dann auf völlig Unbeteiligte zurück.
Eine von der EU finanzierte Studie aus dem Jahr 2010 belegt, dass viele depressive Menschen ausgegrenzt werden. 79 Prozent der Befragten gaben an, wegen ihrer Krankheit diskriminiert worden zu sein. Ein Drittel sagte, wegen der Depression gemieden zu werden. Zwar erklärten viele auch, vom Umfeld positiv überrascht worden zu sein, als sie über die Krankheit sprachen. Doch fast drei Viertel erklärten, lieber nicht über das Problem zu sprechen - aus Angst vor Nachteilen.
Dabei gibt es so viele Betroffene. Ohne Unterschied kann es jeden treffen. Junge und Alte, Religiöse und Atheisten, Intelligente und Dumme, Griechen und Deutsche. Keine Gesellschaftsschicht ist ausgenommen, kein Beruf davor bewahrt. Spitzenmanager leiden darunter, Journalistinnen, Sozialhilfeempfänger und vielleicht auch mancher Wiener Kaffeehaus-Pianist.
Berühmte Menschen wie Winston Churchill und Kirsten Dunst, Ludwig van Beethoven und Sebastian Deisler - niemand ist gefeit, jeder kann Depressionen bekommen. Allein in Deutschland leiden (vermutlich deutlich) mehr als vier Millionen Menschen unter dieser "Volkskrankheit".
Schwermut, Weltschmerz, Trübsinnigkeit: Die Wolke, die diesen Menschen die Heiterkeit verdunkelt, hat viele Namen, auch des Kaschierens wegen. Früher sprach man von der Melancholie, einem aus dem Griechischen entlehnten Wort, das inzwischen sich fast niedlich ausnimmt angesichts seiner Bedeutung: Schwarzgalligkeit.
Das aus der Zeit gefallene Wort beschreibt das Krankheitsbild einer Depression allerdings deutlich zutreffender als der Begriff "Melancholie", der heute fast schon positiv konnotiert ist. Denn die Betroffenen befinden sich in einem Zustand der Qual, den ein Außenstehender kaum nachvollziehen kann. Häufig geht eine Depression auch mit massiven körperlichen Symptomen einher, etwa Schmerzen in ganz unterschiedlichen Körperregionen.
Fast ausnahmslos war Melancholie bis in die Moderne hinein negativ konnotiert. In der Antike entstand der Begriff und genauso alt ist die Diskriminierung derjenigen, die unter Depressionen leiden. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten etwa entstand die Mär vom "Mittagsdämonen", der "von allen Dämonen der drückendste" sei, wie der Mönch Euagrios im vierten Jahrhundert schreibt.
Meist mit der Krankheit allein
Martin Luther entwickelte den Gedanken weiter, obschon er selbst unter starken Stimmungschwankungen gelitten haben soll. Eine Versuchung des Teufels sei die Melancholie, wetterte der Reformator. Luther riet, Schwermut mit Musik - "Naturform des Evangeliums" - zu bekämpfen.
"Immer schlecht" sei die Melancholie, stellte der Philosoph Baruch de Spinoza fest. Doch wo war die Linderung der Depression, wo war die Hilfe in jenen Zeiten, Jahrhunderte vor der Entwicklung der modernen Medizin, Therapien und Psychopharmaka? Es gab keine und zusätzlich den Druck einer Gesellschaft, die den Betroffenen vorhielt: schlecht, diabolisch, pfui. Die Kunst nahm zwar die Melancholie als Motiv für Bilder auf, Meisterwerke entstanden von Albrecht Dürer bis Vincent van Gogh. An der Situation der Betroffenen änderte das allerdings wenig. Sie blieben meist allein mit ihrer Krankheit und schwiegen.
Fühlte sich Andreas Lubitz wegen seiner Depression diskriminiert? Eine Antwort darauf wird es wohl nie geben. Eines ist aber gewiss: Wenn der Umgang mit Depressionen und Betroffenen unverkrampfter wäre, wäre das nicht nur ein Segen für die Erkrankten.