Digital Detox:Die Naivität der Digital-Asketen

Idylle am Olchinger See, 2012

Idylle am Olchinger See, ohne Handy. Bringt die Freiheit vom Digitalen geistige Reinheit?

(Foto: Johannes Simon)

Smartphone-Fasten hat Konjunktur. Doch wer das Digitale als Gift sieht und sich per "Detox" reinigen will, offenbart ein reaktionäres Verständnis der Welt.

Gastbeitrag von Jürgen Geuter

Smartphones können extrem ablenkend sein. Man möchte nur kurz die Uhrzeit checken, doch quasi automatisch öffnet sich Twitter, und rechts oben blitzen permanent neue Nachrichten auf. Drei Apps und fünf Minuten später legt man das Telefon beiseite und hat vergessen, nachzuschauen, wie spät es ist. Also alles wieder von vorne.

So oder so ähnlich beginnen oft Erzählungen oder Bücher, die das Digitale als den Verstand zersetzende, dämonische Kraft des Alltags identifizieren, der Tenor: Über das Smartphones reicht das Internet in jede Sekunde unseres Lebens, es lockt mit Unterhaltung, Zerstreuung oder der Empörungs-Maschine der sozialen Medien - es lockt heraus aus der "realen Welt". Die Lösung, die in den vielen Selbsthilfebüchern auf dem Markt und in Artikeln präsentiert wird, heißt "Digital Detox" oder "Digitaler Minimalismus". Alle paar Tage erscheint ein deutschsprachiger Artikel zum Thema, flammende Kommentare, Think Pieces, Erlebnisberichte.

Und oft, zu oft, wird das Digitale darin als Schadstoff identifiziert, den es zu reduzieren gilt. Erst dann könne man sich wieder echten Erfahrungen und einem besseren Leben ohne Ablenkungen zuwenden. In dieser Abkehr und dem weitgehenden Verzicht auf Konnektivität sollen wir alle den Albert Einstein oder die Simone de Beauvoir in uns finden.

Das Digitale ist real!

Natürlich war es vor ein paar Jahren noch einigermaßen üblich zu fragen, wie viele Stunden am Tag das Gegenüber denn online war. Heute ergibt die Frage keinen Sinn mehr. Offline ist ein fehlerhafter Zustand, der sich nur ergibt, wenn das DSL streikt oder man im Zug sitzt.

Jürgen Geuter aka Tante

Der Autor und Informatiker Jürgen Geuter bloggt auf tante.cc und twittert unter @tante.

(Foto: Unbekannt)

So manifestiert sich in der Digital-Detox-Bewegung ein konservatives - nein, reaktionäres - Verständnis der Welt. Die Erfahrungen der physischen Welt werden überhöht und fast mit einer moralisch-religiösen Wertigkeit versehen - im Gegensatz zur "unechten" Online-Welt, die nur niedere Instinkte bedient. Doch die Trennung in "echte Welt" und "unechte Online-Welt" ist nicht erst 2019 absurd geworden.

Denn das Internet, das Digitale, ist real; die echte Welt ist sowohl analog als auch digital. Natürlich kann man so tun, als seien reale Erfahrungen nur in der haptisch fassbaren Welt möglich. Aber weshalb die Erfahrung des Wartens in der Supermarktschlange einem Whatsapp-Chat mit einer guten Freundin überlegen sein soll, will sich nicht ganz erschließen.

Unsere Erfahrungen in digitalen Systemen sind heute zu großen Teilen sozial. Wir tauschen uns aus, mit Freunden, Familie, Bekannten und Fremden. Die Beziehungen und Interaktionen sind dabei anders strukturiert als bei Treffen in einem Raum, das macht sie aber nicht weniger wertvoll. Gute Freundschaften entstehen auf Plattformen zwischen Menschen, die sich möglicherweise nie treffen werden. Die Diskussionen um Hassrede und Beleidigungen im Internet sind ja deshalb so wichtig, weil Übergriffe im Netz immer auch echte Übergriffe auf eine Person oder Gruppe bedeuten, mit oft verheerenden Folgen für die Betroffenen.

Mit digitaler Askese gegen strukturelle Ungleichheit?

Die Gefühle von Überforderung, Stress und gar Isolation, die durch die internetkritische Bewegung dem Digitalen zugeschrieben werden, haben oft ganz andere Gründe: die Entgrenzung von privatem Leben und Arbeit etwa, die sich darin ausdrückt, dass Menschen sich gedrängt sehen, auch nach Feierabend Arbeitsmails zu beantworten. Ein weiterer Stachel dürften die dem modernen Kapitalismus immanente Isolation und der Zwang sein, sich als menschliches Produkt am Markt zu platzieren. Hier wird das Digitale - als gleichwertiger Teil unserer Realität - zum Hebel genau jener strukturellen Kräfte, die auch sonst im Alltag Stress bedeuten. Die gab es aber auch in vordigitalen Zeiten.

Digital Detox versucht, gesellschaftliche und strukturelle Probleme durch Askese des Einzelnen zu beheben. Doch wer das Digitale als Toxin beschreibt, entreißt den Menschen wichtige Teile ihrer gelebten Realität. Im Gegenzug muss die Erfahrung der physischen Welt mystifiziert werden: Legten wir doch nur alle unsere Handys weg und gäben uns bewusst dem Erleben des Stehens in einer überfüllten S-Bahn hin, so würde unser Leben plötzlich erfüllt, ja glücklich.

Der Wunsch zu einer einfacheren, langsameren und diffus natürlichen Welt zurückzukehren, ist jedoch naiv - und nicht harmlos. Die Realität des Digitalen zu verleugnen delegitimiert reale Erfahrungen, reale Beziehungen und reale Probleme. Von der Kita über den Landfrauenverein bis zu Selbsthilfegruppen für Menschen mit Migräne und "Fridays for Future": Unsere Zivilgesellschaft funktioniert heute nicht zuletzt über digitales Miteinander.

Über den Umgang mit all den brummenden und piependen Geräten muss der moderne Mensch immer wieder nachdenken: Etwa, indem er entscheidet, an welchen sozialen Medien er wie teilnehmen will oder welchen Benachrichtigungen er erlauben will, ihn abzulenken und in welchen Zeiträumen. Die Handy-Gesellschaft muss Normen und Strategien finden, sich selbst vor Stress und Entgrenzung zu schützen - zum Beispiel, indem der Arbeits-Mail-Server nach Feierabend einfach keine Mails mehr zustellt. Aber Weglaufen, die Zeit zurückspulen, zurück in die Achtzigerjahre, ist keine Lösung.

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