Charles Darwin hat es erwischt, seine Evolutionstheorie soll nicht mehr vorkommen. Der Mensch ist nicht das Ergebnis natürlicher Selektion, Gott hat ihn erschaffen - so sollen es türkische Schüler künftig lernen. Vermittelt werden soll ihnen auch der Dschihad, eine Ankündigung, die in säkularen Kreisen einen Aufschrei auslöste. Zwar beeilte sich Bildungsminister İsmet Yılmaz zu versichern, den Schülern solle nicht der Religionskrieg beigebracht werden, die wahre Bedeutung des Begriffs sei "Vaterlandsliebe". Doch die Kritiker beruhigte das nicht. Die Regierung, schimpfte die säkulare Oppositionspartei CHP, plage "die Gehirne unserer kleinen Kinder mit derselben Haltung, die den Nahen Osten in ein Blutbad verwandelt".
Seit Mitte September läuft das Schuljahr in der Türkei, die Reformen der AKP-Regierung sind in Kraft. Und während Yılmaz die Änderungen als "Vereinfachung" des Unterrichtsstoffs herunterspielt, halten seine Kritiker die Überarbeitung des Lehrplans für fundamental. Für sie ist der Streit um Unterrichtsinhalte und Schulbücher mehr als ein Ringen um die richtige Bildungspolitik. Es geht um die Ausrichtung der Republik. Und um die Frage, ob kommende Jahrgänge noch im Geiste von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk aufwachsen, oder ob da die "fromme Generation" herangezogen wird, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan sich wünscht.
Türkei:"Wer nicht ultrarechts denkt, tut eben so"
In türkischen Schulen und Universitäten herrscht weiterhin Angst vor Entlassungen. Eine Gewerkschafterin berichtet.
Der Zorn richtet sich unter anderem gegen eine Reform, die den Zugang zu weiterführenden Schulen nach der 8. Klasse neu regeln soll. Die bisherige Prüfung wurde im Hauruckverfahren abgeschafft, ersetzen sollen sie ein neues Examen und ein Verteilsystem, das die Wohnadresse stärker berücksichtigt. Kritiker sagen, dass auf diese Weise die sogenannten Imam-Hatip-Schulen aufgewertet werden sollen - religiöse Schulen, an denen ursprünglich vor allem Geistliche ausgebildet wurden. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen: Aktuell gibt es 1150 - mehr als 900 von ihnen wurden seit dem Regierungsantritt der AKP im Jahr 2002 gegründet. Die Zahl der Schüler stieg seitdem von unter 100 000 auf 1,15 Millionen.
Das Bildungsministerium begründet die Reform unter anderem mit dem unzumutbarem Leistungsdruck. Dass der nun sinken wird, bezweifelt Ayfer Koçak, 42, Mathe-Lehrerin und Vorsitzende eines Istanbuler Kreisverbands der linken Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen - die begehrten Gymnasiumsplätze seien schließlich weiterhin knapp. Der Rest der Schüler verteile sich auf andere Schultypen, verstärkt auf Religionsschulen - oder Privatschulen, denen die Reform einen Boom bescheren dürfte. "Die Grundidee ist ja richtig, gute Schulen direkt im Wohnviertel zu haben", sagt Koçak. "Aber dann sollte man mehr gute Gymnasien eröffnen."
Die Bildungspolitik war immer schon Austragungsort kultureller Grabenkämpfe, auch vor dem Regierungsantritt der AKP. Nach dem Putsch 1980 verordnete das Militär sein Konzept der "türkisch-islamischen Synthese"; die subversive Kraft der Religion sollte mit nationalistischen Elementen verschmolzen und so gebändigt werden. Religion wurde zum Pflichtfach - auch für die Minderheit der Aleviten, die mit dem Staatsislam sunnitischer Prägung wenig anfangen konnten. Zugleich befand sich die islamistische Bewegung, aus der später auch die AKP hervorging, auf dem Vormarsch.
Die Lehrinhalte veränderten sich vor allem nach 2012
Seit sie regiert, hat der Kampf um die Bildung deutlich an Schärfe gewonnen. Er äußerte sich etwa im jahrelangen Streit um die Lockerung des Kopftuchverbots an Universitäten und Schulen - aus Sicht des säkularen Lagers ein Frontalangriff auf die Grundfesten der Republik. Laut einer Studie von Impact-se, einer israelischen Organisation, die Schulbücher und Lehrpläne wissenschaftlich untersucht, begannen sich die an türkischen Schulen gelehrten Inhalte vor allem nach 2012 zu verändern: "Die Türken werden als Hüter des Islams dargestellt", so die Autoren. Betont wurde die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie, von Religion und Wissenschaft; infrage gestellt wurde die bis dahin vorherrschende Meinung der Säkularen, dass das Osmanische Reich und die Türkei wegen des Islams technologisch hinterherhinke.
"Das Curriculum zeigt die türkisch-islamische Zivilisation im Vergleich mit der westlichen Welt als gleichwertig, in manchen Fällen als überlegen", so die Studie. 2012 führte die AKP-Regierung auch das umstrittene 4+4+4-System ein. Die Regelung erlaubt es Schülern, nicht erst nach der 8. Klasse, sondern schon nach der 4. eine Imam-Hatip-Schule zu besuchen.
Der gescheiterte Putschversuch im vergangenen und das Verfassungsreferendum in diesem Jahr, in dem eine knappe Mehrheit für ein Präsidialsystem stimmte, haben den Umbau des Bildungssystems noch einmal beschleunigt. Tausende Lehrkräfte wurden seit dem Putsch entlassen, vor einigen Monaten stellte Bildungsminister Yılmaz den umfassenden neuen Lehrplan für die Klassen 1, 5 und 9 vor. Er sieht weniger Naturwissenschaften und Kunst vor, manche Themen - Stichwort Evolution - sind ganz gestrichen.
Yılmaz erklärte, Darwins Lehre überfordere die Schüler, die sich stattdessen stärker mit Werten und Religion befassen sollen, in Unterrichtseinheiten, die "Liebe zum Propheten" und "Krieg und Dschihad" heißen. Der Lehrplan, befand die Gewerkschaft Eğitim İş, spiegele "direkt oder indirekt die politischen Ansichten der AKP wider". Bei jeder Gelegenheit erinnere er an den Putschversuch, religiöse Themen erhielten mehr Gewicht, zulasten der Naturwissenschaften und des Kemalismus.
Für Esra Aksu, 29, ist das eine "absolut negative Entwicklung". Die Designerin hat keine Kinder, doch ihr 15-jähriger Bruder lebt bei ihr, er besucht eine renommierte Istanbuler Berufsschule. "Da wird das rationale Denken hintangestellt", sagt sie über die neuen Lehrpläne. Sie und ihr Bruder seien "mit Liebe zu Atatürks Reformen aufgewachsen"; dass der Fokus im Unterricht nun auf Religion und dem Osmanischen Reich liegen soll, findet sie falsch.
Schule:Kein Platz für Erdoğan im Klassenzimmer
Will ein Bundesland den Türkischunterricht vor Indoktrination bewahren, sollte es dem Beispiel von Nordrhein-Westfalen folgen.
"Natürlich sollen die Kinder etwas über die osmanische Geschichte lernen", sagt Aksu, "aber ist es nicht viel wichtiger, dass sie mehr darüber erfahren, wer diesen Staat gegründet hat?" Der Präsident sieht das genau umgekehrt. Im Mai beklagte er in einer Rede, man habe dem türkischen Volk "eine armselige Vergangenheit gegeben". Mit dem neuen Lehrplan werde "die ruhm- und glorreiche Geschichte in die Geschichtsbücher" geschrieben. Entsprechend ruhmreich fällt die Darstellung der Osmanen in den neuen Lehrbüchern aus - Niederlagen kommen kaum vor.
In den Fokus gerückt sind auch jüngere historische Ereignisse wie der Putschversuch 2016. Während das reale Geschehen keineswegs vollständig aufgeklärt ist, feiern Schulbücher den heldenhaften Sieg des Volks über die Verschwörer. Stets ist klar, wer der Feind ist: die Gülen-Bewegung - Terrororganisation und Urheberin allen Übels. Auch die Einordnung etwa der Gezi-Proteste im Jahr 2013 entspricht der Regierungslinie - eine Verschwörung in- und ausländischer Mächte.
Die Gewerkschafterin Ayfer Koçak sieht noch ein weiteres Problem: Die neuen Bücher verbreiteten ein konservatives Frauenbild. Auf Fotos sind verschleierte Frauen zu sehen, die sich um Kinder und Haushalt kümmern, in Texten wird Gehorsamkeit als religiöse Tugend beschrieben. "In der Unterrichtseinheit ,Religionskultur' wird der Mann als Oberhaupt bestimmt, der Frau werden Respekt und Gehorsam nahegelegt", sagt Koçak. "So werden Jungen falsch erzogen. Sie sehen dann ihre Macht über die Frau als ihr Recht. Und die Frau wird zum Gehorsam erzogen."
Das türkische Bildungssystem war nie ein Hort der Liberalität. Die zentristische Struktur, viel stumpfes Auswendiglernen und Prüfungen, die jedes Jahr Tausende Kinder in Angst versetzten, die ideologischen Kämpfe. Heute aber haben sich die Gräben vertieft. Und ob Yılmaz' Reform verhindern kann, dass die Türkei im internationalen Vergleich weiter abrutscht, bezweifeln Experten. Vor allem in Naturwissenschaften und Mathematik schnitt das Land in der letzten Pisa-Studie "signifikant schlechter" ab als der Durchschnitt. Koçak freilich wünscht sich nicht nur bessere Leistungen. Sondern einen "demokratischen und freiheitlichen" Unterricht, "der Kinder nicht immer abhängiger und konservativer werden lässt".