Ein Päckchen Nudeln, 500 Gramm, kostet beim Discounter 39 Cent. Es liefert etwa 1800 Kilokalorien Energie. Das ist nicht ganz die Menge, die ein durchschnittlicher männlicher Mittzwanziger täglich zu sich nehmen sollte, aber immerhin, findet Boris Kosovic. Denn mehr als zwei Euro pro Woche hat er im Moment für Nahrungsmittel nicht zur Verfügung. Und die Nudeln machen zumindest einigermaßen satt.
Kosovic, der eigentlich anders heißt, lebt jedoch nicht auf der Straße. Er ist nicht arbeitslos, kein Schul- oder Ausbildungsabbrecher, kein sozial Gescheiterter. Er hat Abitur und studiert im zweiten Semester Biologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Dass er kaum noch Geld zum Leben hat, liegt weniger an ihm selbst, es liegt an seiner Herkunft. Boris Kosovic ist im Südosten Europas geboren, außerhalb der EU - und Nicht-EU-Ausländer müssen seit dem Wintersemester 2017/18 in Baden-Württemberg 1500 Euro Studiengebühren pro Semester bezahlen.
Mit den Gebühren will das Land der seit vielen Jahren stetig wachsenden internationalen Studentenschaft an den staatlichen Hochschulen Herr werden - und nebenbei die Schuldenbremse einhalten. Der Grundgedanke: Ausländische Studierende brauchen im Studium mehr Betreuung und brechen häufiger ab als die sogenannten Bildungsinländer. Außerdem werden die Unis durch Steuergelder finanziert, zu denen Nicht-EU-Ausländer beziehungsweise deren Eltern naturgemäß erst einmal nichts beitragen. Daher hält es das Wissenschaftsministerium unter der Grünen-Politikerin Theresia Bauer auf Anfrage "für gerecht, wenn internationale Studierende zumindest einen moderaten Beitrag zu den Gesamtkosten leisten".
Es gebe ja, betont das Ministerium, diverse Ausnahmeregeln, wodurch nach offizieller Rechnung ohnehin etwa die Hälfte der theoretisch Zahlungspflichtigen von den Gebühren befreit werden. Solche Ausnahmen gelten etwa für Studierende, die in Deutschland Abitur gemacht haben, Teilnehmer von Erasmus-Programmen oder auch für anerkannte Asylsuchende. Zusätzlich dürfen die Unis noch fünf Prozent der Betroffenen von den Gebühren ausnehmen, wobei Studierende aus besonders armen Regionen wie den Staaten Afrikas zu bevorzugen sind.
Ministerium hofft auf Einnahmen in Millionenhöhe
Also alles gut und "sozialverträglich", wie das Ministerium regelmäßig betont? Nein, sagt Phillip Stöcks vom Studierendenrat (Stura) der Uni Freiburg. Er hält die Gebühren nicht nur für diskriminierend, sondern auch für einen großen Rückschritt für das Land und die Vielfalt an den Hochschulen. Der Stura hat gemeinsam mit zwei Betroffenen daher Verfassungsbeschwerde beim Landesgerichtshof in Stuttgart eingereicht. Dass sich das Gericht überhaupt mit dem Thema befassen will, wertet Stöcks schon als Erfolg. "Die Gebühren verletzen elementare Persönlichkeitsrechte", ist sich Klägeranwalt Wilhelm Achelpöhler sicher.
Was bleibt, ist die grundlegende Frage: Ist es legitim für ein reiches Land wie Deutschland, das zudem auf die Zuwanderung von Fachkräften angewiesen ist, angehende Akademiker aus dem Ausland für ihr Studium zur Kasse zu bitten? Es ist bisher zumindest nicht besonders erfolgreich, wie die Anmeldezahlen aus Baden-Württemberg zeigen. Die Zahl der Neu- und Erstanmeldungen von Nicht-EU-Ausländern ist an den Hochschulen seit der Einführung der Gebühren um gut 19 Prozent zurückgegangen. Das Wissenschaftsministerium bekundet derweil: "Wir wollen mehr internationale Studierende, nicht weniger." Und rechnet vor, dass der erste gebührenzahlende Jahrgang binnen fünf Studiensemestern voraussichtlich 21,3 Millionen Euro an den Staat überweisen wird.
Ob Boris Kosovic noch so lange zu den Zahlern gehören kann, weiß er im Moment nicht. Von seiner Familie erhält er keine Unterstützung und nimmt daher jeden Job an, der ihm ein paar Euro einbringt, auf dem Bau, als Umzugshelfer oder Maler. "Ich kann da nicht wählerisch sein." Außerdem arbeitet er für die Stadt Freiburg als Dolmetscher für Flüchtlinge, die Unterstützung in den Sprachen Serbokroatisch, Mazedonisch und Albanisch brauchen. Die Einnahmen reichen allerdings nicht mehr für die Miete, da immer weniger Menschen aus den Balkanstaaten in Baden-Württemberg ankommen und die Sprachkenntnisse von Kosovic seltener gebraucht werden. Weil weniger Flüchtlinge kommen, kann der Bildungsausländer Boris Kosovic sein Studium kaum mehr finanzieren. Bei so viel Ironie des Schicksals muss er selbst ein wenig lächeln.
Trauriger sind seine Augen, wenn er von den vielen Vorlesungen spricht, die er wegen seiner Jobs versäumt. Bei durchschnittlich 45 Arbeitsstunden pro Woche bleibt für Präsenz an der Uni kaum Zeit. Nach langen Arbeitstagen bereitet er den Stoff abends in seinem Zimmer im Studentenwohnheim mit Mitschriften netter Kommilitonen nach, so gut es eben geht. Manchmal aber muss er zu Tricks greifen, um überhaupt weiter auf dem Weg Richtung Bachelor bleiben zu können. Dann lässt er sich für das studentische Pflichtpraktikum krankschreiben, um Geld verdienen zu können. Obwohl er wie seine Kommilitonen viel lieber im Labor stehen würde, um die Praxis zur zellbiologischen Theorie kennenzulernen.
Nicht nur auf seine Psyche, auch auf seine körperliche Gesundheit hat die Situation längst Einfluss genommen. Durch die einseitige und kohlehydratreiche Ernährung hat er viel Gewicht zugelegt, von der harten Arbeit auf dem Bau schmerzt der Fersensporn. "Früher", sagt Kosovic, "konnte ich noch Blut und Thrombozyten spenden. Heute geht das nicht mehr, weil durch die schlechte Ernährung meine Blutwerte nicht mehr gut genug sind."
Dass es aufgrund der Studiengebühren solche Fälle gibt, stört auch Juliane Besters-Dilger, Prorektorin für Studium und Lehre an der Uni Freiburg. Ihr Mitgefühl geht noch weiter: "Ich bedaure jeden einzelnen Fall, in dem jemand aufgrund der Studiengebühren nicht bei uns studieren kann." Aber es sei nun mal so, dass die Landesrektorenkonferenz sich für eine von zwei Optionen entschieden habe: Dort habe sich eine deutliche Mehrheit für die Gebühren für nicht EU-Ausländer ausgesprochen, um zu verhindern, dass der Haushalt der Hochschulen insgesamt gekürzt wird.
Dass die Gebühren sinnvoll sind, wenigstens aus ökonomischer Sicht, darf man dennoch bezweifeln. Von den 1500 Euro je Person und Semester tragen 1200 Euro zur Konsolidierung des Wissenschaftshaushalts bei, nur 300 Euro verbleiben bei den Unis. Die müssen das Geld in eine bessere Betreuung der Auslandsstudenten investieren, etwa für Deutschkurse oder Mentorenprogramme. Deshalb sei der Vorschlag des Ministeriums, die Hochschulen könnten ja weitere Gebührenbefreiungen aus ihrem Anteil finanzieren, utopisch, sagt Besters-Dilger. Denn zusätzliches Personal für den riesigen, durch die Gebühren entstandenen Verwaltungs- und Organisationsaufwand gibt es nicht. Für die Hochschulen sei das bestenfalls ein "Nullsummenspiel", erklärt die Prorektorin.
Für Deutschland, das hat eine Studie gezeigt, die das Bundesbildungsministerium vor einigen Jahren in Auftrag gegeben hatte, sind Studierende aus dem Ausland ein Gewinn. Die 2014 herausgegebene Untersuchung zeigt, dass sich die Ausgaben des hiesigen Steuerzahlers für die Bereitstellung von Studienplätzen und Stipendien bereits amortisieren, wenn gerade mal 30 Prozent der Absolventen wenigstens fünf Jahre in Deutschland arbeiten. Wer bei Studierendenverbänden und Hochschulen nachfragt, kommt zu dem Ergebnis: Der Anteil an Studierenden aus dem Ausland, die später in Deutschland Steuern zahlen, ist weitaus höher.
Das Argument des Wissenschaftsministeriums, EU-Ausländer nutzten nur das deutsche Bildungssystem, steuerten aber nichts bei, verfängt auch im Fall des angehenden Biologen Boris Kosovic nicht. Er würde sich gern auf Immunologie spezialisieren und nach dem Abschluss in Freiburg an einer deutschen Uni forschen. Dass der Weg bis dahin weit ist, blendet Kosovic aus und erzählt lieber mit Begeisterung von den guten Unis in Deutschland und den zugewandten Dozenten. "Ich kämpfe so lange weiter, wie mein Körper es zulässt. Mir macht das Studium so wahnsinnig viel Freude, ich will das irgendwie schaffen." In ein paar Wochen sind wieder 1500 Euro fällig, plus 155 Euro Verwaltungsbeitrag.