Oh doch, Kathrin Wiencek kennt diese Diskussion. Sie ist Lehrerin für Mathe, Physik und Politik an einem Gymnasium in Potsdam, sie weiß, dass es bei diesem Thema hoch hergehen kann - anderswo. Der Streit um G 8 oder G 9, um die Frage also, ob das Abitur nach zwölf oder doch erst dreizehn Jahren absolviert werden soll, wird von Eltern und Pädagogen schnell zu einer Glaubensfrage erklärt. Wiencek, die auch Vorsitzende des Philologenverbands Berlin-Brandenburg ist, lacht. "Das erlebe ich jedes Mal, wenn ich zur Bundessitzung fahre", sagt sie. "Wenn wir Raucher wären, könnten meine ostdeutschen Kollegen und ich da immer rausgehen und eine rauchen." G 8 oder G 9 - das sei überwiegend eine Debatte aus dem Westen für den Westen. An den meisten Ostdeutschen gehe sie komplett vorbei.
In einigen westdeutschen Ländern wird um die Frage gerade wieder heftig gestritten. Viele Eltern in Bayern, in Nordrhein-Westfalen oder hoch im Norden in Schleswig-Holstein sorgen sich, dass ihre Kinder zu wenig Freizeit haben und zu viel Druck. Sie kämpfen fürs G 9. "Das ist hier in Brandenburg kein Thema", sagt Wiencek. "Die eigene Sozialisation spielt da eine große Rolle", glaubt sie.
Vier Jahrzehnte lang wurden Schüler in der DDR in zwölf Jahren zum Abitur geführt. So ist der Begriff Turbo-Abi für G 8 im Osten ein Fremdwort: Abi, das ist nach zwölf Jahren. "Es wird als bewährt empfunden", sagt Wolfgang Seelbach vom Brandenburger Landeselternrat. Dafür wird das G 9 eher als unnötige Verlangsamung verstanden. So war es nach der Wiedervereinigung, als drei Länder - Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern - nach westdeutschem Vorbild das Abitur nach 13 Jahren einführten, um Einheitlichkeit herzustellen. Es kam nicht gut an. Als der Trend Anfang der 2000er-Jahre bundesweit in Richtung G 8 ging, kehrten die drei Länder schnell wieder dahin zurück.
Mit dem zwölfjährigen Abi verbanden viele das Gefühl, etwas Gutes, Eigenständiges bewahrt zu haben, wo doch so vieles mit dem Ende der DDR weggeschwemmt worden war. Brandenburgs populäre, 2001 verstorbene Sozialministerin Regine Hildebrandt brachte es mit einem Witz auf den Punkt, der ihr zuverlässig Applaus brachte und ein Klassiker geworden ist. "Warum brauchen die Wessis 13 Jahre bis zum Abitur, ein Jahr länger als die Ostler?" fragte sie. Die Antwort: "Weil ein Jahr Schauspielunterricht dabei ist."
In Sachsen und Thüringen hielten die von der CDU geführten Regierungen stets am G 8 fest, sie vertraten das mit großem Selbstbewusstsein. Dass ihre Schüler in Vergleichstests wie Pisa besonders gut abschnitten, nahmen sie als Bestätigung für ihren Weg. "Wir sind sehr glücklich darüber, dass wir in Sachsen diese Kontinuität haben", sagt die Christdemokratin Brunhild Kurth, Kultusministerin in Dresden. "Es besteht große Einigkeit von Schülern, Eltern, Lehrern und in der Politik, dass wir keine Veränderung wollen." Dabei spiele Tradition eine Rolle, sagt Kurth, "aber mit Tradition allein ist es nicht getan".