Wie können Lehrer parallel leistungsschwache und leistungsstarke Kinder in einer Klasse fördern? Wie klappt die Integration von Flüchtlingskindern? Und wie steht es um die Inklusion an Deutschlands Schulen? Fragen, mit denen sich Miriam Vock, Professorin für Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung an der Uni Potsdam, beschäftigt. Kürzlich hat sie die Studie "Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht" mitverfasst.
SZ.de: Frau Vock, in Deutschland ist es der Normalfall, dass Kinder nach der Grundschule auf Basis ihrer Leistungsfähigkeit auf die weiterführenden Schulen verteilt werden. Was halten Sie davon?
Miriam Vock: Gar nichts. Viele andere Länder haben sich nicht zufällig längst von diesem Prinzip verabschiedet. Auch für Deutschland zeigen viele Studien, dass der Übergang zumeist weder leistungsmäßig noch sozial gerecht abläuft.
Wie meinen Sie das?
Erstens ist das Leistungsspektrum innerhalb der Schularten Gymnasium, Realschule und so weiter viel zu groß. Da ist es kaum möglich, eine eindeutige Aufteilung zu machen. Und zweitens ist der soziale Einfluss beim Übergang an die weiterführenden Schulen noch immer immens. Kinder von Akademikern gehen mit einer viel größeren Wahrscheinlichkeit aufs Gymnasium als Kinder von Eltern, die selbst nur einen Hauptschulabschluss haben.
Passiert die Verteilung der Kinder auf verschiedene Schularten auch zu früh?
Ja. Studien haben mittlerweile nachgewiesen, dass ein anspruchsvoller Unterricht auch die Intelligenz anregt. Die Intelligenz, eigentlich ein ziemlich stabiles Merkmal eines Menschen, ist auch davon abhängig, ob man als zehnjähriges Kind aufs Gymnasium oder die Hauptschule wechselt.
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Wie lange sollten denn alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden?
Schwierige Frage. Wissenschaftlich gesichert ist, dass es hauptsächlich an den Bruchstellen einer Schulkarriere zu sozialer Ungleichheit kommt. Daher würde man grundsätzlich denken: Je später aufgeteilt wird, desto besser. Ich meine aber, dass der schulische Erfolg - ganz unabhängig, wann wer welche Schule besucht - davon abhängt, wie der Unterricht selbst gestaltet ist.
Was raten Sie?
Dem gegliederten Schulsystem liegt die Idee zugrunde, dass man einen statischen Unterricht machen kann, weil alle Kinder einer Klasse die nahezu gleichen Voraussetzungen mitbringen. Aber das stimmt nicht. Daher muss Unterricht immer differenzieren. Leistungsstarke Schüler dürfen sich nicht langweilen, leistungsschwache sollen sich langsam steigern können.
Damit das gelingt, fordern seit Langem viele Experten, dass eigentlich pro Klasse immer zwei Lehrer im Raum sein müssten. Wie sehen Sie das?
Das wäre natürlich der Idealfall. Der ist im Moment aber sehr unrealistisch, weil das ja nicht mal in den Inklusionsklassen funktioniert, wo es eigentlich vorgesehen ist. Ich denke, man braucht nicht nur mehr Lehrer, sondern allgemein viel mehr pädagogisch geschultes Fachpersonal an den Schulen.
Wie ließe sich dieses Personal einsetzen?
Stellt eine Lehrkraft fest, dass ein Schüler zurückbleibt, muss sie sich jederzeit Hilfe holen können. Das kann im Rahmen des normalen Unterrichts passieren, leistungsschwache Schüler können aber auch zeitweise in Kleingruppen unterrichtet werden, wo sie ihren Rückstand gezielt aufholen können. Das wäre ein deutlich effizienteres Modell, als einfach abzuwarten, bis der Rückstand von einem Kind so groß ist, dass es zum Beispiel eine Klasse wiederholen muss. Dasselbe Tempo für eine Klasse von 25, 26 Kindern - das funktioniert einfach nicht.
Insbesondere, wenn in diese Klasse auch noch Kinder mit Fluchthintergrund integriert werden sollen, wie das im Moment an vielen Schulen der Fall ist.
Natürlich. Diese Kinder werden derzeit in Willkommensklassen mit viel Deutschunterricht auf die Regelklassen vorbereitet. Das deutsche Schulsystem musste da schnell reagieren, viele Willkommensklassen waren in den ersten Monaten eher ein Notbehelf als wirklich gute und gut ausgestattete pädagogische Angebote. Nach wie vor gibt es leider viel zu wenig qualifiziertes Personal für den notwendigen Unterricht. Die Migration in das deutsche Bildungssystem wird nicht einfach aufhören. Deshalb müssen nun Menschen für diese Aufgabe gezielt ausgebildet und Konzepte für den Unterricht erarbeitet werden, die auch wissenschaftlich begleitet werden. Gerade die Frage "Wann soll ein Kind in den Regelunterricht wechseln?" ist bisher kaum nach handfesten Kriterien zu entscheiden.
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In Ihrer Studie beschäftigen Sie sich auch mit Frontalunterricht. Ist der wirklich so sehr zu verdammen, wie das viele Experten seit Jahren tun?
Unterricht braucht auch strukturierte Phasen der Information. Neues Wissen, gut aufbereitet von einem Experten - das ist sehr viel wert. Ich halte es für naiv, zu denken, Schüler könnten sich alles in Gruppen- und Projektarbeit selbst erarbeiten. Studien zeigen auch, dass frontale Unterrichtsphasen gerade für die schwächeren Schüler besonders wirksam sind. Die sind von sehr offenen Formaten schnell überfordert. Für leistungsstarke Kinder wiederum können freie Arbeitsphasen sehr gut funktionieren. Auch hier muss Unterricht differenzieren.
Wie sollen Lehrkräfte das schaffen?
Das fragen sich viele völlig zu Recht. Es ist ja auch kaum möglich, für jede Unterrichtsstunde ein Arbeitsblatt in drei verschiedenen Versionen vorzubereiten, um jedem Lerntempo gerecht zu werden. Hier sehe ich zwei Notwendigkeiten: Schulbuchverlage und Fachdidaktiker an den Universitäten müssen viel mehr und qualitätsgesicherte Lehrmaterialen bereitstellen, um den Lehrkräften Arbeit abzunehmen. Und die Lehrkräfte müssen noch mehr kooperieren. An vielen Schulen schuften sie noch immer als Einzelkämpfer vor sich hin, das ist kein Zukunftsmodell. Hier gilt es, Synergieeffekte zu nutzen und mehr im Team zu arbeiten.
Beim Thema schulische Heterogenität geht es auch um die Inklusion. Wie beurteilen sie die Situation in Deutschland?
Wir sind auf einem guten, aber noch sehr langen Weg. An den Grundschulen ist schon eine Menge passiert, die weiterführenden Schulen müssen nachziehen. Natürlich funktioniert das nicht, indem man alle Schüler - mit oder ohne Behinderung - einfach in einen Raum setzt. Es ist eine pädagogisch sehr anspruchsvolle Aufgabe. Gerade die soziale Integration von Kindern mit Behinderung klappt an vielen Schulen noch schlecht. Hier ist die Unterstützung von pädagogischem Personal immens wichtig für die Lehrkräfte.
In dem Zusammenhang wird darüber gestritten, ob die Förderschulen künftig noch gebraucht werden. Was denken Sie?
Dass es um soziale Teilhabe und die bestmögliche Bildung für alle Kinder und Jugendlichen geht. An welchem Förderort die stattfindet, ist für mich erst einmal zweitrangig. Auch hier finde ich einen differenzierten Blick wichtig, nicht für alle Kinder muss ein bestimmtes Modell auch das Beste sein. Aus Studien wissen wir aber, dass Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im inklusiven Unterricht an einer Regelschule insgesamt mehr lernen als auf einer Förderschule.