Deutsch lernen. Deutsch lernen! Und nochmal Deutsch lernen: So lautet oft das politische Credo, wenn es um die Integration von Zuwanderern geht. Wer die Sprache nicht kann, wird keinen Platz in der Gesellschaft finden. Für die Abertausend Kinder im schulpflichtigen Alter, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen sind, wurden zu diesem Zweck allerorts Übergangsklassen geschaffen. Dort sollen sie möglichst schnell die neue Sprache lernen, damit sie bald in Regelklassen wechseln können.
Soweit die Theorie, die nicht immer perfekt, in der Praxis aber dank immensen Aufwands von Schulen und Lehrkräften sehr ordentlich funktioniert. Nur eines, sagt Heiner Böttger, wird dabei von den meisten Bildungspolitikern vergessen: "Wenn man Integration ernst nehmen möchte, ist eine muttersprachliche Förderung an unseren Schulen aus sprachwissenschaftlicher Sicht unabdingbar."
Böttger ist Professor für Englischdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, er hat viel zu Bilingualität und zum Erwerb von Fremdsprachen geforscht. Natürlich findet er die Übergangsklassen, die Neuankömmlinge auf das deutsche Schulsystem vorbereiten sollen, wichtig. Trotzdem hält er es für "gefährlich, dass wir die Sprachförderung bei den Zuwandererkindern vernachlässigen".
Die Muttersprache der Kinder spielt an deutschen Schulen kaum eine Rolle. Das widerspricht den Erkenntnissen der Sprachforschung, die verknappt lauten: Die eigene Muttersprache zu beherrschen, ist essenziell für das Erlernen jeder weiteren Sprache. Die Forschung spricht von einer Referenzsprache, die in puncto Grammatik und Begriffsbildung das Grundgerüst im Hirn stellt, das sich auf weitere Sprachen anwenden lässt.
Hakan Yildiz weiß sehr gut, was damit gemeint ist. Der Deutsch-Türke, der eigentlich anders heißt, unterrichtet an einer bayerischen Mittelschule. "Ganz oft höre ich türkische Jugendliche, die weder ordentlich Türkisch noch Deutsch sprechen", sagt er. Wissenschaftler Böttger spricht von einer "doppelten Halbsprachigkeit" - die extrem problematisch ist, wenn eine weitere Sprache dazukommt. Böttger erinnert sich an seine eigene Zeit als Lehrer: "Türkische Jugendliche, die kein Konzept von Sprache hatten, waren dann vollkommen erschüttert und auch hilflos, wenn es im Englischen an das will- und going-to-future ging."
Ähnliches hat auch Lehrer Yildiz beobachtet und eine Art eigenen Muttersprachenunterricht eingeführt. "Ich erkläre den Schülern sprachliche Zusammenhänge oft auf Türkisch, wenn sie sie auf Deutsch oder Englisch nicht begreifen." Das funktioniere meistens sehr gut und sei auch mit den anderen Kindern in der Klasse so abgesprochen. Wer zum Beispiel das englische present perfect bereits verstanden hat, bekommt eine kleine Schreibübung, während Yildiz es noch einmal auf Türkisch erklärt. Natürlich sei das kein perfekter Unterricht, sagt der Mittelschullehrer, "aber mit den beschränkten Mitteln muss man eben manchmal kreativ werden".
Zwar sei es seit Jahrzehnten klar, dass Muttersprache in der Schule gefördert werden muss, sagt Heiner Böttger. Aber leider werde diese Erkenntnis kaum umgesetzt. Das erkennt auch, wer sich durch die Schulgesetze verschiedener Bundesländer liest.
Meist steht dort etwas über Herkunftssprachenunterricht und auch darüber, dass man die Muttersprache von Kindern mit Migrations- oder Fluchtgeschichte nicht verkümmern lassen will. Aber eben nur, wenn noch Geld dafür übrig ist. In einem Papier aus Nordrhein-Westfalen heißt es etwa, Herkunftssprachenunterricht könne, "im Rahmen der haushaltsrechtlichen und organisatorischen Möglichkeiten" erteilt werden. In der Praxis also eher selten. Bayern hat den muttersprachlichen Ergänzungsunterricht schon vor Jahren abgeschafft. Wenn doch Unterricht in dieser oder jener Muttersprache angeboten wird, kümmern sich darum die diplomatischen Vertretungen der jeweiligen Länder. "Verantwortungslos", meint Sprachdidaktiker Böttger.
Anders wird mit dem Thema zum Beispiel in Schweden umgegangen. Schon seit den späten Siebzigerjahren haben Kinder, deren Muttersprache nicht Schwedisch ist, ein Recht darauf, zusätzlich zum normalen Curriculum zumindest ein paar Schulstunden pro Woche in jener Muttersprache unterrichtet zu werden. Das klappt offenbar tatsächlich: So haben zum Beispiel somalische Eltern vor einigen Jahren an einer Schule in Örebrö für muttersprachlichen Unterricht gesorgt. Gut organisierte Kommunen kommen bereits vor der Einschulung von Kindern mit anderen Muttersprachen auf deren Eltern zu und klären, welche Möglichkeiten es für Unterricht auf Deutsch, Italienisch, Arabisch und so weiter gibt.
Die Totschlagargumente, die Kritiker bei jeder bildungspolitischen Debatte schnell bei der Hand haben, lauten natürlich auch hier: kein Geld, kein Personal, keine Zeit. Das will Heiner Böttger so nicht gelten lassen. Natürlich sei ein immenser - auch finanzieller - Aufwand nötig, um für die vielen verschiedenen Muttersprachen der Schüler in Deutschland qualifizierte Lehrer aufzutreiben. Und natürlich seien die Stundentafeln jetzt schon voll. "Dann muss man Schule eben noch mehr ganztägig denken", sagt Böttger.
Gerade in einer globalisierten Welt, in der Mobilität ein immer wichtigeres Kriterium ist, spricht vieles für die Förderung der Muttersprache. Man stelle sich ein arabisches Kind vor, das die eigene Sprache vielleicht einigermaßen, die zugehörigen Schriftzeichen aber nie gelernt hat. "So ein Kind verliert nicht nur einen Teil seiner kulturellen Identität. Es wird auch nie mehr die Möglichkeit haben, in sein Herkunftsland zurückzugehen und dort zu arbeiten", erklärt der Hochschullehrer.
Dabei weiß der Wissenschaftler natürlich, dass sich das deutsche Schulsystem weder bis morgen noch bis übermorgen so grundlegend ändern wird, wie er es sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht wünscht. Für ausländische Eltern hat er daher einen Tipp, damit ihren Kindern das Sprachenlernen leichter fällt. "Sie sollen auf keinen Fall mit ihren Kindern radebrechend Deutsch sprechen, sondern bei der Muttersprache bleiben." So werde diese gefestigt und die Basis geschaffen für die deutsche Sprache.