Die Bertelsmann-Stiftung stellt in einer aktuellen Studie zu Ganztagsschulen in Deutschland fest, dass die Bildungsstätten finanziell und personell sehr unterschiedlich ausgestattet sind. Klaus Zierer, Leiter des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, wundert sich nicht über die Ergebnisse.
SZ.de: Herr Zierer, die Studie der Bertelsmann-Stiftung sieht Deutschlands Ganztagsschulen nicht auf dem besten Weg. Was sagen Sie dazu?
Klaus Zierer: Das Ergebnis überrascht nicht, schon eher der immer wiederkehrende Glaube, dass allein mehr Zeit und mehr Personal zu einer besseren Bildung führen würden. Aber zum Glück funktionieren Schule und Unterricht nicht so einfach! Nur an einem Rädchen zu drehen, wird die Probleme nicht lösen. Die mangelnden Ressourcen sind nicht die einzige und mit Sicherheit nicht die entscheidende Herausforderung.
In der Politik wird der Ausbau der Ganztagsschulen seit Jahren propagiert. Wo müsste man ansetzen, um den Ganztag besser zu machen?
Zuerst müsste man fragen: Wollen und brauchen wir den Ganztagsausbau in der aktuellen Form überhaupt? Als Erziehungswissenschaftler schaue ich darauf, was das Beste für die Lernenden ist. Da muss man klar sagen: Es ist nicht der Ganztag! Wir sollten in erster Linie Familien stärken, damit sie den großen Einfluss, den sie nachweislich auf ihre Kinder haben, bestmöglich nutzen. Wenn Eltern - zum Beispiel Alleinerziehenden oder auch einkommensschwachen Familien - das nicht möglich ist, kann der Ganztag ein wichtiges Angebot in der Bildung sein. Aber eben nur eines unter vielen Angeboten in einer vielfältigen Schullandschaft und sicher nicht der ideale Weg für alle Kinder.
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"Die Ganztagsschule hat das Potenzial, Nachteile, die Kinder im Elternhaus haben, abzufedern und so die Chancengleichheit zu verbessern", sagt Klaus Klemm, der an der Bertelsmann-Studie mitgearbeitet hat. Sehen Sie das auch so?
Nein, weil es aus meiner Sicht wissenschaftlich nicht haltbar ist. Die StEG-Studie des Bundesbildungsministeriums zeigt beispielsweise, dass der Ganztag das nicht leisten kann: Kinder aus einem bildungsnahen Milieu können die Angebote des Ganztags besser nutzen als Kinder aus bildungsfernen Milieus. Die Unterschiede, die nun mal da sind, kann man nicht durch Herumschrauben an den Strukturen beseitigen. Das kann nur gelingen, wenn man die Personen in diesen Strukturen stärkt, die Kinder, ihre Eltern und die Lehrer. Individuelle Förderung und Qualifizierung sind entscheidend für den Bildungserfolg und Bildungsgerechtigkeit.
Man müsste also auch in der Lehrerbildung ansetzen, damit der Ganztag gelingt?
Unbedingt. Der Ort der Bildung ist nicht die Struktur oder der Ganztag. Der Ort der Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen - die muss man stärken. Schon im Lehramtsstudium müssen angehende Lehrer mit dem Ganztag und seinen Problemen und Chancen konfrontiert werden. Denn erfolgreicher Ganztag heißt nicht nur, mehr Zeit in der Schule zu verbringen. Er führt automatisch auch zu einer engeren Beziehung zwischen Schüler und Lehrer und erfordert ein anderes Unterrichten und Zusammenleben in der Schule.
Wie sieht für Sie funktionierender Ganztagsunterricht aus?
Zierer: Ein zentraler Faktor heißt Kooperation. Die Verantwortung in der Ganztagsschule darf nicht allein beim Lehrer liegen, das Elternhaus muss viel mehr mit einbezogen werden. Manche Eltern glauben, "Ich schicke mein Kind in den Ganztag, dann habe ich meine Ruhe!" - das ist völlig verkehrt. Gerade im Ganztag ist noch viel mehr Abstimmung zwischen Eltern und Lehrern nötig.
Wie stellen Sie sich die Kooperation zwischen Lehrkräften und Eltern vor?
Es muss über Lernfortschritte und Verhaltensweisen, über Interessen und Bedürfnisse, über Werte und Normen, letztendlich über das Kind in all seinen Möglichkeiten gesprochen werden. Und zwar auf Augenhöhe, denn beiden Seiten ist ja daran gelegen, dass das Kind Fortschritte macht. Beide Seiten müssen also bereit dafür sein, diesen Dialog regelmäßig und offen zu führen. Nur so kann man den Schülern helfen.
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Ohne mehr Lehrpersonal an den Schulen wird das kaum möglich sein.
Dazu gibt es eine interessante Untersuchung zum Team-Teaching. Bei diesem Verfahren wird angenommen, dass der Unterricht erfolgreicher sei, wenn zwei Lehrer die Klasse gemeinsam unterrichten. Die Forschung aber zeigt, dass der Effekt sehr gering ist. Warum? In Österreich hat man im Zuge der Inklusion auch mit zwei Lehrern unterrichtet. Und wie wird der zweite Lehrer mittlerweile genannt? Der Heizkörperlehrer, weil er nur am Heizkörper lehnt, während der andere unterrichtet. Das zeigt, dass eine strukturelle Maßnahme - Personal hochfahren, um im Team lehren zu können - wenig Wirkung zeigt, solange die Lehrpersonen nicht geschult werden und miteinander kooperieren, solange sie weder die Kompetenz, noch die Haltung zum Team-Teaching haben.
Qualität vor Quantität?
Beides zusammen mit Nuancierungen: Höchste Qualität und angemessene Quantität! Auf jeden Fall lassen sich die Probleme beim Ganztag nicht nur mit Geld und Personal von heute auf morgen lösen. Wir müssen die Lehrer fortbilden, die wir bereits haben, und die vorbereiten, die in Zukunft Bildungsarbeit leisten. Da passiert derzeit im Hinblick auf den Ganztag einfach zu wenig in der Lehrerbildung.