Und noch einer Stammtisch-Befürchtung widersprechen die Autoren - der Annahme, dass die relativ starke Erblichkeit der Intelligenz dazu führe, dass sich ein entsprechender Trend über die Generationen in einer Familie verstärke. Soll heißen: Bekommen die weniger Begabten auf Dauer mehr Kinder, so müsste gemäß den Regeln der Arithmetik die Gesellschaft langsam verdummen - das Thilo-Sarrazin-Argument.
Weniger Kinder an Gymnasien? Ja, sagen Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer.
(Foto: Mr. Nico / photocase.com)Doch dem ist nicht so, zum einen, weil sich die Reproduktionsraten so stark nun doch nicht unterscheiden; zum anderen, weil der Erbgang bei der Intelligenz komplex ist und sehr viele Gene an diesem beteiligt sind, von denen aber immer nur ein Teil zum Zuge kommt. "Absurd" sei daher die Vorstellung, "dass das Kind aus einer Partnerschaft, in der ein Elternteil einen IQ von 110, der andere einen IQ von 130 hat, bei einem IQ von 120 landen wird."
Vielmehr hätten hochintelligente Menschen das Glück - und wenig intelligente Menschen das Pech -, dass sie bei ihrer Zeugung ihre ganz besondere Gen-Mischung abbekommen haben. Doch blieben sie weiterhin Träger von weniger günstigen beziehungsweise besseren Genen. Diese wirken sich nicht mehr bei ihnen, aber womöglich bei ihren Nachkommen aus. Deshalb sei die Familienähnlichkeit der Intelligenz nicht übermäßig groß. Diese "Regression zur Mitte" erkläre, warum die Kinder von Genies selten Aufsehen erregten und der Verdummungseffekt ein Schreckgespenst bleibe, das vom wirklich wichtigen Thema ablenkt.
Genies müssen besser gefördert werden
Denn das ist die Botschaft von Stern und Neubauer: Wenn denn die Intelligenz derart wichtig für das Fortkommen des Einzelnen ist, dann gelte das auch für den Erfolg der Gesellschaft als ganzer. Sie plädieren daher dafür, jene ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung, die bei einem Intelligenztest klar überdurchschnittlich mit mehr als 115 Punkten abschließen, besonders zu fördern - damit diese ihr Potenzial auch erreichen.
Sie zitieren Kalkulationen, wonach ein zehnjähriges Kind mit einem Höchstbegabten-Potenzial von 130 Punkten in einem IQ-Test nur unterdurchschnittliche 90 Punkte erreicht, wenn es aus irgendwelchen Kastrophengründen ganz auf Schulbesuch verzichten muss. Man ahnt, was Taliban-Gesellschaften entgeht, die Mädchenschulen in die Luft sprengen.
Diese Einsicht führt Stern und Neubauer allerdings nicht zum Ruf nach Baby-Gehirnjogging und Frühchinesisch. Sie plädieren dafür, vor allem die aktuelle Praxis der höheren Bildung kritisch im Lichte der modernen Lern- und Intelligenzforschung zu betrachten. Zu viel werde da über Randbedingungen diskutiert: Ganz- oder Halbtagsschule, gegliedertes Schulsystem oder Gemeinschaftsschule, Inklusion oder nicht, Noten - ja oder nein?
Worauf es wirklich ankomme, das seien die Unterrichtsqualität und hervorragend ausgebildete sowie motivierte Lehrer. Warum nämlich sei Finnland Pisa-Spitzenreiter? Weil dort 100 Bewerber auf sechs Lehramtsstudienplätze kämen. Dort sei, anders als in Deutschland, kein Platz für mittelmäßig begabte Studenten, die in einem Job an der Schule vor allem ein bequemes Leben anstreben.
Der sachliche Ton dieses Buches verdeckt so manche explosive Forderung, die sich ein Bildungspolitiker kaum erlauben könnte. So stellen die beiden Wissenschaftler infrage, ob wirklich alle Schüler und Studenten, die derzeit Gymnasien und Universitäten besuchen, dort auch hingehören. "Eine Schule für besonders Begabte, die von nahezu der Hälfte der Schüler besucht wird, (. . .) ist ein Widerspruch in sich", konstatieren Stern und Neubauer kühl. Sie plädieren für eine drastische Senkung der Gymnasialquote, die in Deutschland derzeit bei knapp 40 Prozent liegt.
Nicht jedes Akademikerkind darf an die Uni
Sinnvoll sei es, spätestens an den Universitäten nach Schweizer Vorbild eine Jahrgangsquote von nur 20 Prozent anzusteuern - vorausgesetzt, die Auswahl erfolgt nach Begabung und nicht nach Herkunft: "Zu den zukünftigen Herausforderungen in entwickelten Ländern gehört es, damit umzugehen, dass längst nicht jedes Akademikerkind einen Anspruch auf eine Universitätsbildung geltend machen kann."
Man mag darüber streiten, ob die Autoren nicht etwas übertreiben, wenn sie etwa warnen: "Einer Gesellschaft, die ihre Intelligenzreserven nicht ausnutzt, droht Stillstand und Abstieg." Schließlich erwartet schon lange niemand mehr, dass alle Studenten zur Wissenschaft befähigt sein sollten - die unterdurchschnittliche Akademiker-Arbeitslosigkeit zeigt, dass der Markt sie dennoch brauchen kann. Auch die deutsche Forschung steht trotz der Öffnung der Universitäten so schlecht ja nicht da.
Dennoch schlagen Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer eine Diskussion vor, der eine größere Öffentlichkeit guttun würde. Mag das Buch auch kein Bestseller werden, man wünscht ihm doch möglichst viele Leser.
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