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Schülerzahlen an Gymnasien und Unis:Es ist die Intelligenz, Dummkopf

Lesezeit: 5 Min.

Man hört es nicht gerne, aber Stand der Forschung ist: Unser intellektuelles Potenzial ist weitgehend angeboren. Die Psychologen Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer erklären, was Begabung ist - und plädieren dafür, deutlich weniger Schüler zum Gymnasium zuzulassen.

Von Christian Weber

Dieses Buch wird wohl kein Bestseller. Warum nicht? Es beschreibt unsere geistigen Fähigkeiten, wie sie wirklich sind. Nüchtern und klar, nach Studienlage, ohne Anekdoten, Ich-Geschichten, süffige Thesen und Heilsversprechen, wie sie die Pop-Science-Autoren von Daniel Coyle ("Die Talentlüge") bis Malcolm Gladwell ("Überflieger") so gerne verfassen.

Nein, nicht jeder Mensch hat die Möglichkeit zum großen Erfolg, da mag er sich noch so abstrampeln, da mögen die Chancen noch so am Straßenrand liegen. Was einer überhaupt erreichen kann, das stecken in weitem Maße die Gene ab. Entscheidend ist das ererbte kognitive Potenzial. Die These dieses Buches lautet, frei nach Bill Clinton: "It's the intelligence, stupid."

Die Lernforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich und der Psychologe Aljoscha Neubauer von der Universität Graz bemühen sich in ihrem Buch "Intelligenz: Große Unterschiede und ihre Folgen" um Deutlichkeit. Gelassen, aber bestimmt widersprechen sie den zahlreichen Mythen zum Thema, die in der Öffentlichkeit kursieren, in der Wissenschaft aber widerlegt sind.

Es gibt nur eine Intelligenz

So sei es nur eine schlechte Analogie, wenn viele Autoren jede Art von Kompetenz, von der sozialen bis zur sexuellen, als Formen von "Intelligenz" bezeichneten. Bei der Intelligenz gehe es nun mal um formale, kognitive Fähigkeiten im engeren Sinne, um "logisches Denkvermögen, die Fähigkeit zum schlussfolgernden (induktiven) Denken oder die Fähigkeit zur räumlichen Vorstellung". Diese Fähigkeiten existierten unabhängig von sonstigen Kompetenzen und kulturellen Prägungen und seien klar zu definieren.

Deshalb treffe auch ein weiteres populäres Missverständnis nicht zu, dass nämlich Intelligenztests nur willkürliche Hilfskonstrukte seien. Im Gegenteil, schreiben Stern und Neubauer, "Intelligenztests waren und sind eine Erfolgsgeschichte der Psychologie". Und nein: Es stimmt nicht, dass die mathematische Schwäche des einen meist durch seine umso größeren sprachlichen oder sonstigen Stärken ausgeglichen werde. Vielmehr hätten zahlreiche Studien einen zumindest moderaten Zusammenhang zwischen den verschiedenen kognitiven Teilleistungen gezeigt.

Deshalb sei es durchaus gerechtfertigt, von einer allgemeinen Intelligenz zu sprechen, Fachleute nennen diese "Faktor g" (abgekürzt für Generalfaktor). Dieser Faktor sei es, der schulischen und beruflichen Erfolg, Einkommen, ja Lebenserfolg überhaupt in signifikantem Maße voraussagt. Er sei wichtiger auch als Motivation, Fleiß, Disziplin und Kreativität, zumal solche Faktoren häufig ohnehin mit Intelligenz korrelierten.

Keine Furcht vor heißen Debatten

Auch vor den heißen Debatten machen Stern und Neubauer nicht halt: Klar doch, schreiben sie, das erreichbare intellektuelle Potenzial sei weitgehend angeboren. "Die Eizelle und die Samenzelle, die zueinandergefunden haben, stecken das geistige Feld, in dem sich ein zukünftiger Mensch bewegen kann, ab."

Die Missverständnisse kämen eher daher, dass das Erbgut häufig als eine Art Programm gesehen werde, das von alleine abläuft. Doch das sei so falsch wie die Annahme, eine Pflanze würde von alleine wachsen, weil sie genetisch determiniert dazu sei. Natürlich müsse sie dennoch gegossen werden, damit sie wächst. Ebenso müsse man dem menschlichen Geist Lernangebote machen, damit dieser sich entwickelt. Gene und Umwelt wirkten nicht unabhängig voneinander, sie interagierten vielmehr: "Nature via nurture" müsse es heißen statt "Nature versus nurture."

Und noch einer Stammtisch-Befürchtung widersprechen die Autoren - der Annahme, dass die relativ starke Erblichkeit der Intelligenz dazu führe, dass sich ein entsprechender Trend über die Generationen in einer Familie verstärke. Soll heißen: Bekommen die weniger Begabten auf Dauer mehr Kinder, so müsste gemäß den Regeln der Arithmetik die Gesellschaft langsam verdummen - das Thilo-Sarrazin-Argument.

Doch dem ist nicht so, zum einen, weil sich die Reproduktionsraten so stark nun doch nicht unterscheiden; zum anderen, weil der Erbgang bei der Intelligenz komplex ist und sehr viele Gene an diesem beteiligt sind, von denen aber immer nur ein Teil zum Zuge kommt. "Absurd" sei daher die Vorstellung, "dass das Kind aus einer Partnerschaft, in der ein Elternteil einen IQ von 110, der andere einen IQ von 130 hat, bei einem IQ von 120 landen wird."

Vielmehr hätten hochintelligente Menschen das Glück - und wenig intelligente Menschen das Pech -, dass sie bei ihrer Zeugung ihre ganz besondere Gen-Mischung abbekommen haben. Doch blieben sie weiterhin Träger von weniger günstigen beziehungsweise besseren Genen. Diese wirken sich nicht mehr bei ihnen, aber womöglich bei ihren Nachkommen aus. Deshalb sei die Familienähnlichkeit der Intelligenz nicht übermäßig groß. Diese "Regression zur Mitte" erkläre, warum die Kinder von Genies selten Aufsehen erregten und der Verdummungseffekt ein Schreckgespenst bleibe, das vom wirklich wichtigen Thema ablenkt.

Genies müssen besser gefördert werden

Denn das ist die Botschaft von Stern und Neubauer: Wenn denn die Intelligenz derart wichtig für das Fortkommen des Einzelnen ist, dann gelte das auch für den Erfolg der Gesellschaft als ganzer. Sie plädieren daher dafür, jene ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung, die bei einem Intelligenztest klar überdurchschnittlich mit mehr als 115 Punkten abschließen, besonders zu fördern - damit diese ihr Potenzial auch erreichen.

Sie zitieren Kalkulationen, wonach ein zehnjähriges Kind mit einem Höchstbegabten-Potenzial von 130 Punkten in einem IQ-Test nur unterdurchschnittliche 90 Punkte erreicht, wenn es aus irgendwelchen Kastrophengründen ganz auf Schulbesuch verzichten muss. Man ahnt, was Taliban-Gesellschaften entgeht, die Mädchenschulen in die Luft sprengen.

Diese Einsicht führt Stern und Neubauer allerdings nicht zum Ruf nach Baby-Gehirnjogging und Frühchinesisch. Sie plädieren dafür, vor allem die aktuelle Praxis der höheren Bildung kritisch im Lichte der modernen Lern- und Intelligenzforschung zu betrachten. Zu viel werde da über Randbedingungen diskutiert: Ganz- oder Halbtagsschule, gegliedertes Schulsystem oder Gemeinschaftsschule, Inklusion oder nicht, Noten - ja oder nein?

Worauf es wirklich ankomme, das seien die Unterrichtsqualität und hervorragend ausgebildete sowie motivierte Lehrer. Warum nämlich sei Finnland Pisa-Spitzenreiter? Weil dort 100 Bewerber auf sechs Lehramtsstudienplätze kämen. Dort sei, anders als in Deutschland, kein Platz für mittelmäßig begabte Studenten, die in einem Job an der Schule vor allem ein bequemes Leben anstreben.

Der sachliche Ton dieses Buches verdeckt so manche explosive Forderung, die sich ein Bildungspolitiker kaum erlauben könnte. So stellen die beiden Wissenschaftler infrage, ob wirklich alle Schüler und Studenten, die derzeit Gymnasien und Universitäten besuchen, dort auch hingehören. "Eine Schule für besonders Begabte, die von nahezu der Hälfte der Schüler besucht wird, (. . .) ist ein Widerspruch in sich", konstatieren Stern und Neubauer kühl. Sie plädieren für eine drastische Senkung der Gymnasialquote, die in Deutschland derzeit bei knapp 40 Prozent liegt.

Nicht jedes Akademikerkind darf an die Uni

Sinnvoll sei es, spätestens an den Universitäten nach Schweizer Vorbild eine Jahrgangsquote von nur 20 Prozent anzusteuern - vorausgesetzt, die Auswahl erfolgt nach Begabung und nicht nach Herkunft: "Zu den zukünftigen Herausforderungen in entwickelten Ländern gehört es, damit umzugehen, dass längst nicht jedes Akademikerkind einen Anspruch auf eine Universitätsbildung geltend machen kann."

Man mag darüber streiten, ob die Autoren nicht etwas übertreiben, wenn sie etwa warnen: "Einer Gesellschaft, die ihre Intelligenzreserven nicht ausnutzt, droht Stillstand und Abstieg." Schließlich erwartet schon lange niemand mehr, dass alle Studenten zur Wissenschaft befähigt sein sollten - die unterdurchschnittliche Akademiker-Arbeitslosigkeit zeigt, dass der Markt sie dennoch brauchen kann. Auch die deutsche Forschung steht trotz der Öffnung der Universitäten so schlecht ja nicht da.

Dennoch schlagen Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer eine Diskussion vor, der eine größere Öffentlichkeit guttun würde. Mag das Buch auch kein Bestseller werden, man wünscht ihm doch möglichst viele Leser.

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Quelle:
SZ vom 14.06.2013
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