Schule:Vorübergehend nicht zu erreichen

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Wie geht es weiter? Niemand vermag derzeit sicher zu sagen, wann geregelter Unterricht wieder beginnen kann. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Beim Homeschooling werden vor allem die schwachen Schüler abgehängt. Längst nicht alle haben Computer zu Hause - und manche verschwinden völlig vom Radar.

Von Paul Munzinger, München

Ostern, das ist in normalen Schuljahren das letzte große Durchatmen vor der Zielgeraden. In diesem Jahr sind die Osterferien die Zeit, um sich auf eine Zukunft vorzubereiten, von der keiner weiß, wie sie aussieht. Und um eine erste Bilanz der jüngsten Vergangenheit zu ziehen: der Wochen ohne Schule, die trotzdem niemand als schulfrei bezeichnen würde. Die Bilanz von Julia Lindner fällt gemischt aus, um es höflich zu sagen. Und beim Ausblick, sagt sie, wird ihr mulmig.

Julia Lindner unterrichtet an einer Hauptschule in der Nähe von Köln, im Herbst ist sie mit dem Referendariat fertig. Julia Lindner ist nicht ihr richtiger Name, sie möchte nicht, dass der in der Zeitung steht. Lindner hat gute Erfahrungen in den vergangenen Wochen gemacht. Sie hat Schüler erlebt, die sich reinhängen, die ihre Arbeitspläne erfüllen, die sich freuen, wenn die Lehrerin anruft. Sie hat Eltern erlebt, die gerade "viel stemmen müssen" und auch viel stemmen. Und sie hat erlebt, dass Dinge ganz schnell gehen, die in Vor-Corona-Zeiten fast utopisch wirkten, die Einrichtung dienstlicher Mail-Adressen für Lehrer etwa.

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Vor allem aber hat sie erlebt, "wie begrenzt meine Mittel sind". Lindner ist Klassenlehrerin einer 6. Klasse, mit 24 Kindern. Die meisten von ihnen haben keine E-Mail-Adresse, sagt Lindner. Ein Computer ist ihres Wissens in vier Familien vorhanden, ein Drucker in einer. Unter diesen Bedingungen, sagt sie, sei der digitale Unterricht, von dem jetzt alle reden, einfach nicht möglich. Klar, Smartphones haben alle, auch wenn manche Kinder sich das Handy mit Geschwistern teilen. Aber mit Lernapps umgehen, das gelinge den meisten trotzdem nicht - woher auch, sagt Lindner, davor hätten sie das nie geübt. Und viele Eltern könnten kaum helfen, bei manchen reiche das Deutsch nicht.

Von zwei Schülern hat sie seit der Schließung nichts mehr gehört

Lindner hat deshalb auf analog umgestellt, auf "oldschool". Sie hat Materialpakete für ihre Schüler gepackt und sie in die Post geworfen. Sie telefoniert viel mit den Schülern, macht Kontrollanrufe. Der Austausch sei gut, sagt sie, das Lernen klappe häufig. Doch zugleich merke sie, dass Schule - gerade Hauptschule - mehr sei als Mathe, Deutsch, Englisch. Ansprache, Struktur, die Schule als vertrauter Raum - all das falle nun weg. Und bei allem Bemühen, digital und analog: Von zwei ihrer 24 Schüler hat sie seit Beginn der Schulschließungen nichts mehr gehört.

Viele Lehrer, gerade an Haupt- und Grundschulen, erzählen derzeit ähnliche Geschichten: Wie schwer es häufig ist, in der Krise den Kontakt gerade zu den Schülern zu halten, die diesen Kontakt am meisten brauchen. Sie berichten von Kindern, die ihre Aufgaben nicht machen, von Eltern, die nicht ans Telefon gehen, von Sprachbarrieren und von den begrenzten Möglichkeiten des Digitalen, wenn die nötige Ausstattung fehlt. "Wie stark Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland zusammenhängen, sehen wir gerade wie unter einem Vergrößerungsglas", sagt Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Bildungsgewerkschaft GEW.

Die Krise wird bei den Schülern größere und kleinere Wissenslücken hinterlassen, das steht jetzt schon fest. Die Debatte darüber, wie damit in Zukunft umzugehen ist, hat längst begonnen. Der Deutsche Lehrerverband regte Wiederholungsphasen und Förderkurse an, schlug aber auch vor, dass leistungsschwächere Schüler über eine freiwillige Wiederholung des laufenden Schuljahres nachdenken sollten. Eine Idee, die Hoffmann als "völlig unsozial" zurückweist, sie spricht von "geraubter Lebenszeit". Viel drängender ist aber aktuell ohnehin eine andere Frage: Wie die Wissens- und sonstigen Lücken angesichts der womöglich über Ostern hinaus geschlossenen Schulen möglichst klein gehalten werden können. "Das Gebot der Stunde", sagt Hoffmann, "lautet jetzt: Kontakt halten, mit allen Mitteln."

Katholische Eltern in Bayern plädieren dafür, Homeschooling nun generell zu erlauben.

Es ist eine Herausforderung, die sich in Hamburg besonders stellt. Die Vielfalt in den Klassenzimmern ist groß, laut Schulbehörde wird in jeder vierten Familie kein Deutsch gesprochen, mehr als 40 Prozent gelten als einkommensschwach. Dazu kommt, dass Hamburg keine Osterferien hat, dafür waren Anfang März zwei Wochen frei. Direkt danach folgte die Schulschließung. In keinem anderen Bundesland sind die Schüler länger nicht in der Schule. "Lehrkräfte", teilt die Schulbehörde mit, "berichten jetzt häufiger davon, dass einzelne Schülerinnen und Schüler tagelang nicht erreichbar sind."

Hamburg hat sich daher eine Reihe von Maßnahmen ausgedacht, um Schüler "mit schwierigen wohnlichen und häuslichen Rahmenbedingungen" zu unterstützen. Die wichtigste ist, dass die Notbetreuung an den Schulen für alle Schüler geöffnet ist, egal was ihre Eltern arbeiten. Lehrkräfte, heißt es, "können, dürfen und sollen gezielt Familien ansprechen und auf die Notbetreuung hinweisen, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass die Kinder in der häuslichen Umgebung überfordert sind". Schüler haben zudem die Möglichkeit, sich Laptops und Tablets bei der Schule auszuleihen. Bereiten sie sich auf Prüfungen vor, dürfen sie das in der Schule tun. Ein Sorgentelefon gibt es auch.

Hamburg geht damit deutlich weiter als andere Bundesländer. In Bayern etwa steht die Notbetreuung nur für Kinder zur Verfügung, deren Eltern in "systemkritischen Berufen" arbeiten, Ärzte also oder Polizisten. "Ein flächendeckendes oder allgemeines Betreuungsangebot würde das Ziel, das mit den Schulschließungen erreicht werden soll, unterlaufen", heißt es aus dem Kultusministerium. Betreut werden derzeit 2600 Schüler an 1421 Schulen. "Generell möchten wir betonen", schreibt das Kultusministerium, "dass wir von den Schulen gute Rückmeldungen über den Ablauf der letzten Wochen bekommen."

Auch in Nordrhein-Westfalen ist die Notbetreuung für die Kinder des "Personals kritischer Infrastrukturen" eingerichtet worden. Seit dem 2. April dürfen sie zudem Schüler nutzen, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Laut Schulministerium werden in NRW knapp 10 000 Schüler betreut, ein Prozent aller Schüler.

Die Notbetreuung in Hamburg wird laut Schulbehörde "zunehmend genutzt". Zahlen könne man aber noch nicht nennen. Wie viele Schüler sich Laptops leihen oder in der Schule lernen, wisse man ebenfalls noch nicht. Nur eine Zahl liegt schon vor: In den ersten fünf Tagen hat es beim Sorgentelefon 108 Anrufe gegeben.

Ob die Hamburger Maßnahmen greifen, muss sich also erst erweisen. Gewerkschafterin Ilka Hoffmann spricht von "guten Ansätzen", kritisiert aber - nicht nur mit Blick auf Hamburg -, dass die Gesundheit der Lehrer in der Notbetreuung nicht ausreichend geschützt werde. "Oft gibt es nicht mal Seife." Die Referendarin Julia Lindner ist skeptisch. Sie fordert, so schnell wie möglich Betreuungsangebote für alle Kinder zu schaffen, zunächst in Kleingruppen, und dafür alle Kapazitäten heranzuziehen - nicht nur Lehrer, sondern auch Sozialarbeiter, Erzieher, Mitarbeiter von Jugendzentren. "Kinder aus sozial benachteiligten Familien müssen zurück in die Schule", sagt sie. "Sonst gehen sie uns verloren."

© SZ vom 09.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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