Schulschließungen:Lehren aus der ersten Welle

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Die Infektionszahlen steigen rasant - müssen bald auch wieder Schulen schließen? Eine Umfrage unter Kinderärzten kommt jedenfalls zu einer klaren Empfehlung.

Von Susanne Klein

Kitas und Schulen zuzusperren dürfe nur das letzte Mittel bei der Pandemiebekämpfung sein, lautet eine Lehre der Corona-Krise. Keine Weisheit, die sich gleich jedem aufdrängte, schon gar nicht der im März vom Virus überrumpelten Politik. Es ist vielmehr die bittere Einsicht in die Folgen wochen- und monatelanger Schließungen. Spielplätze hinter Absperrband, Kitas und Horte ohne Erzieher, leere Schulen und Sozialeinrichtungen: Dass die harten Maßnahmen in der ersten Welle Kindern mehr schadeten, als sie der ganzen Gesellschaft nützten, hat man erst sukzessive gelernt.

Jetzt rollt die zweite Welle, und eine Umfrage unter Kinderärzten, durchgeführt im Juni und Juli im Auftrag der Krankenkasse Pronova BKK, erinnert an die erste: 80 Prozent bemängeln, dass das Kindeswohl bei den Einschränkungen sowie den Lockerungen zu wenig beachtet worden sei. 90 Prozent gehen von einer hohen Dunkelziffer an häuslicher Gewalt gegen Kinder aus. Und ebenfalls neun von zehn Ärztinnen und Ärzten sprechen sich gegen eine abermalige Schließung von Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen aus. Zwei Drittel plädieren dafür, den Betrieb mit Hygieneauflagen eingeschränkt aufrechtzuerhalten, ein Drittel lehnt sogar jegliche Einschränkung ab.

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Auch Spielplätze sollten offen bleiben, finden 85 Prozent. Und fast jede Kinderärztin und jeder Kinderarzt (94 Prozent) ist der Ansicht, dass Beratungsstellen, Familienzentren und andere Anlaufstellen für Kinder aus problematischen Verhältnissen zugänglich bleiben müssen. Bei Fußballclubs und anderen Sportstätten ist die Skepsis größer: Vier von zehn Ärzten sähen sie lieber geschlossen, solange das Coronavirus exponentiell um sich greift.

Repräsentativ ist die Studie nicht, aber sie gibt Einblicke in die Erfahrungen von 150 Kinderärztinnen und -ärzten aus fast allen Bundesländern. Die meisten praktizieren in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg, je ein Drittel in sozial schwächeren, mittleren oder besseren Wohnlagen. In rund vier Monaten Homeschooling und Beschränkung sozialer Kontakte haben die Ärzte gesehen, dass sich Symptome ihrer Patienten verstärkten. 37 Prozent der Mediziner registrierten mehr körperliche Beschwerden. Neun von zehn diagnostizierten mehr psychische Beschwerden, vor allem bei den ab Sechsjährigen. Jeder Zweite meldet eine Zunahme von Verhaltensänderungen, Angststörungen, Reizbarkeit und Aggressivität.

Vor der Corona-Krise machten Kinderärzte am häufigsten die ausufernde und unbegleitete Mediennutzung für Beschwerden ihrer Patienten verantwortlich. Zudem den Mangel an Bewegung, frischer Luft und Spielzeit mit der Familie. In der Pandemie tritt eine weitere Ursache in den Vordergrund: zu wenig Zeit mit Freunden und in festen Gruppen, ob in der Kita oder in der eigenen Schulklasse.

Die Freunde zu vermissen ist aus Sicht der Ärzte für Kinder aller sozialer Milieus ein Problem. Auch der Anstieg bei Depressionen betreffe alle gleich. Kognitive Entwicklungsverzögerungen infolge der Krise befürchten aber mehr Ärzte mit Praxen in benachteiligter Lage: Ihren Patienten habe beim Homeschooling oft die Anleitung gefehlt. Vor allem diese Ärzte warnen davor, den Regelbetrieb in Kitas und Schulen erneut einzuschränken. Und sie haben eine Mehrheit hinter sich: 70 Prozent aller Befragten sind der Meinung, dass die Gesellschaft mit dem Infektionsrisiko durch Kinder leben muss.

© SZ vom 19.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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