Schule:Aufgeschlossene Gesellschaft

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Vor der Bundestagswahl haben sie sechs Kandidaten in die Quinoa-Schule zur Diskussion eingeladen. Mittendrin in der Disskusion mit den Bundestagskandidaten auch die Lehrer wie Jonas Akaou (links, im karierten Hemd). (Foto: Quinoa-Schule)

Kaum ein Schüler spricht zu Hause Deutsch, das Schulgeld beginnt bei 25 Euro: Die Quinoa-Schule in Berlin zeigt, dass eine Privatschule das Gegenteil von elitär sein kann.

Von Jan-Martin Wiarda

Es sind nur ein paar Wörter, halblaut gezischt am Ende der Stunde, doch in ihnen steckt alles, wogegen Jonas Akaou kämpft. "Ridha", sagt der 30 Jahre alte Lehrer zu dem schmalen Jungen im Kapuzenpulli, während die anderen Siebtklässler aus dem Klassenzimmer strömen. "Bleibst du bitte kurz hier?" Ridha (Name geändert) tut so, als habe er nichts gehört, packt seinen Kram, schindet Zeit, trottet dann doch widerwillig zu Akaou hinüber. "Ridha, magst du wiederholen, was du eben gesagt hast?" Ridha mag nicht. Er steht einfach da und starrt in die Stille hinein. Aber Akaou weiß auch so, was Ridha genuschelt hat, was Ridha offenbar glaubt: dass er für seine Mitarbeit in der Stunde anders als seine Mitschüler kein Plus bekommen habe, weil er ein "Kanacke" sei. "Glaubst du wirklich, dass du schlechter behandelt wirst, weil du Ausländer bist?", fragt Akaou. Ridha antwortet nicht. "Ich möchte nicht, dass du so schlecht von dir selbst denkst", sagt Akaou.

Ein Morgen im September, die zweite Woche nach den Sommerferien. Unter den Halogenleuchten hängt noch die verbrauchte Luft der 15 Jugendlichen der 7 a, die soeben das Klassenzimmer verlassen haben. Sie sind Schüler einer der ungewöhnlichsten Privatschulen, die es in Deutschland gibt. Quinoa heißt sie, wie die Frucht, die der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon 2013 zur Pflanze des Jahres erklärte, weil sie in klimatisch ungünstigen Bedingungen gedeiht. Sie könne helfen, den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Die Quinoa-Schule, gegründet 2014 in Berlin-Mitte, will helfen, den Hunger nach Bildung zu bekämpfen in einem Stadtbezirk, dessen Schüler bislang regelmäßig am Ende der Bildungsstatistiken auftauchen. Eine "Schule für alle" will Quinoa sein.

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Privatschulen, das sind aber doch die, wo die Reichen hingehen. Wo die Wohlhabenden sich durch hohe Schulgelder abschirmen. So besagt es das Klischee, und tatsächlich hat erst vor wenigen Wochen eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) ergeben, dass etwa in der Hauptstadt 38 der 67 untersuchten privaten Schulen mit den Klassenstufen sieben bis zehn zum Teil deutlich überhöhte Gebühren von 100 Euro und mehr im Monat erheben. Was den Wissenschaftlern zufolge gegen das Grundgesetz verstößt. Mit dem Ergebnis, dass nur knapp acht Prozent ihrer Schüler aus finanzschwachen Familien stammen - im Vergleich zu 32,3 Prozent berlinweit.

Entsprechend heftig war die Debatte, als jüngst bekannt wurde, dass Mecklenburg-Vorpommerns neue SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig ihren Sohn an einer Privatschule angemeldet hatte. Schwesigs Entscheidung drücke mangelndes Vertrauen in das von ihr verantwortete staatliche System aus, kritisierte Simone Oldenburg, die Vorsitzende der Linksfraktion im Schweriner Landtag. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagte, er verstehe, weshalb die Bürger so ratlos den SPD-Wahlkampf beobachteten: "Sie reden über Bildungspolitik, und Frau Schwesig schickt ihr Kind auf eine Privatschule."

Wer die Quinoa-Schule besucht, erkennt gleich die Grenzen der geltenden Klischees: Ein flacher Bau im Industriegebiet, graubeiger Putz, davor ein Maschendrahtzaun. Auch so kann also eine Privatschule aussehen. Die Quinoa-Schule ist in einer früheren Kosmetikfabrik untergebracht, hier kommen nicht acht Prozent aus armen Familien, sondern 83 Prozent. So viele der 110 Schüler leben von Sozialleistungen. Nur 17 Prozent zahlen überhaupt Schulgeld, das wiederum bei 25 Euro im Monat anfängt. 90 Prozent der Schüler kommen aus Familien, in denen Deutsch nicht die erste Sprache ist. An der Quinoa-Schüler sollen sie lernen, was in ihnen steckt. Sie sollen aus der Opferrolle herauskommen, in der sich viele Schüler immer wieder verfangen, so wie der Siebtklässler Ridha. "Viele von ihnen haben schon an der Grundschule Zurückweisung erfahren", sagt Akaou.

Realität gewordener Traum von Reformpädagogen

Neben den klassischen Fächern gibt es Unterricht im berufsorientierten Fach "Zukunft"; in "Interkulturelles Lernen" sollen die Jugendlichen über ihre eigene Identität reflektieren und über die Frage, wie sie sich in die Gesellschaft einbringen wollen. Türkisch ist zweite Fremdsprache. In den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Englisch bearbeiten die Schüler im Wochenrhythmus ein gemeinsames Thema. Die Natur- und Geisteswissenschaften sowie das Fach "Kreativität" sind in Form dreiwöchiger Projekte organisiert, die Lehrer holen sich externe Experten dazu. Neben den Klassenlehrern hat jeder Schüler einen eigenen Tutor unter den Lehrern, den er oder sie einmal wöchentlich zum Gespräch trifft. Dazu soll es bald Mentoren von außerhalb der Schule geben, die die Schüler über die Quinoa-Zeit hinaus in die Ausbildung oder in die Oberstufe begleiten.

Das Schulkonzept klingt wie der Realität gewordene Traum von Reformpädagogen, doch Schulleiterin Juliane Schäfer weiß, dass am Ende die harten Zahlen zählen. "Wir wollen Persönlichkeiten bilden und den Schülern helfen, ihre Stärken zu erkennen. Wir wollen aber auch, dass sie ihre Leistung bestmöglich steigern können", sagte sie - und grinst zufrieden. Sie weiß, welche Frage als nächste kommt, und hat eine erstaunliche Antwort: 74 Prozent der Quinoa-Schüler haben schon am Ende der 9. Klasse den Hauptschulabschluss, die Berufsbildungsreife, erlangt. Der Schnitt für Wedding liegt bei 45 Prozent.

Jonas Akaou hat mit seiner Klasse im Fach "Weltbürgerkunde" gerade das Projekt "Jugendkriminalität". Sie haben sich den Film "Knallhart" angeschaut, der die Geschichte des 15-jährigen Michael erzählt, der mit seiner Mutter nach Neukölln zieht, Drogenkurier wird und am Ende ein Gang-Mitglied erschießt. Immer wenn es zu laut wird, stellt Akaou an seinem Laptop die Stoppuhr ein, die Zahlen flimmern über den Beamer, und wenn am Ende der Stunde mehr als drei Minuten draufstehen, kriegt die ganze Klasse kein Plus. Das gleiche gilt, wenn mehr als zwei Schüler zum Schluss bei der Verhaltensampel auf "Rot" stehen: kein Plus, für die ganze Klasse.

Es sind Regeln, die den Schülern in allen Fächern wiederbegegnen und die ihren Ehrgeiz anstacheln: Wenn einer zu viel quatscht, wird er vom Banknachbarn ermahnt. Wenn die Schüler gut mitarbeiten, gibt es Lobpunkte. Bei 40 Punkten erhalten die Eltern einen Lobanruf. "Normalerweise wird zu Hause angerufen, wenn es mal wieder Ärger gab", sagt Schulleiterin Schäfer. "Bei uns sollen die Eltern auch wissen, wenn sie Grund haben, stolz auf ihre Kinder zu sein."

Jonas Akaou, dessen Vater aus Marokko eingewandert ist, hat selbst nie Lehramt studiert, sondern Politik- und Islamwissenschaften. Er kam über die Ehrenamtlichen-Organisation Teach First an die Schule, erst mal nur für zwei Jahre, dann blieb er. "Ich habe das Gefühl, dass ich hier wirklich etwas für die Schülerinnen und Schüler bewirken kann", sagt Akaou, dunkelbraune Haare, kurz geschnittener Vollbart, kariertes Hemd. Als Student hat er in Neukölln bei einem politischen Bildungsprojekt für Jugendliche mitgearbeitet, da hat es ihn gepackt.

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Nach den ersten drei Stunden versammelt sich die ganze Schule unten im großen Saal, der Aula, Kantine und manchmal auch Turnhalle ist. Über 100 Schüler auf Hockern, ihre Lehrer mittendrin. Am Rand steht Schulleiterin Schäfer und lässt den Blick schweifen zu den Sesseln auf dem Podium. Quinoa hat sechs Bundestagskandidaten eingeladen, von SPD bis AfD, und womöglich denken die Politiker da oben anfangs, sie hätten leichtes Spiel, solange sie sich bei den Jugendlichen anbiedern und versprechen, den Privatschulen das Leben leichter zu machen. Doch dann stürmen die Fragen auf sie ein vom Klimaschutz über die Zukunft des Flughafens Tegel bis zu ihren Konzepten für zusätzliche Kitaplätze. Besonders der AfD-Kandidat, ein Studienrat von einem benachbarten Gymnasium, wird gegrillt, was denn dieses Plakat solle, auf dem zu lesen steht: "Neue Deutsche? Machen wir selber!" Nein, nein, beteuert er, das sei nicht gegen Jugendliche wie sie gerichtet. Da johlt der Saal.

"Die Quinoa-Schule hat das Ziel, dass all ihre Schüler*innen die Chance auf eine selbstbestimmte Zukunft wahrnehmen", so steht es auf ihrer Website, und an diesem Morgen in September bekommt man eine Idee, was das heißen könnte. Aber warum an einer Privatschule? Ginge das nicht auch unter staatlicher Hoheit? "Wir haben die Möglichkeit, ein ganz neues, ein eigenes Konzept zu entwickeln", sagt Quinoa-Geschäftsführerin Ulrike Senff. "Dazu nutzen wir die inhaltlichen Freiheiten, die eine private Schule uns bietet."

Und die ökonomischen dazu: Die Schule hat mehrere Großspender und bereitet gerade eine Kleinspender-Kampagne vor. Als sogenannte Ersatzschule, die grundsätzlich die gleichen Unterrichtsinhalte anbieten muss wie staatliche Institutionen, erhält sie rund zwei Drittel ihres Budgets vom Land Berlin, den Rest muss sie selbst decken - was anderen Privatschulen oft als Rechtfertigung dient für ihre zum Teil exorbitanten Elternbeiträge. Bei lediglich 17 Prozent Zahlern muss Quinoa jedoch einen Weg gehen, der für andere Privatschulen der Image-Super-GAU wäre: Sie bezieht Zuschüsse aus dem sogenannten Bonusprogramm "für Schulen in schwieriger Lage", sprich: mit hohem Anteil benachteiligter Schüler.

Kann diese kleine Schule Blaupause werden für ähnliche Projekte anderswo in Berlin und in Deutschland? Oder funktioniert das Geschäftsmodell Quinoa nur, solange es nicht zu viel Konkurrenz um das bisschen gesellschaftliche Unterstützung bekommt? Diese Fragen sind offen, noch ist Quinoa ein prekäres Projekt. Die Lehrer erhalten nur zwei Drittel des staatlichen Gehalts. Die Fluktuation ist hoch, gerade die jungen Lehrer hängen sich rein, einige können irgendwann nicht mehr. Hier kann man wie Juliane Schäfer mit 30 Jahren Schulleiterin werden.

Nach dem Auftritt der Politiker sitzt Schäfer in einem Besprechungsraum mit schlechtem Licht und erzählt von ihrem Referendariat. Sie hat es an einem bayerischen Gymnasium absolviert - an einer Schulform also, die vielen als Beweis dafür gilt, dass sich auch staatliche Schulen abschotten, ganz ohne Schulgeld. Jetzt leitet sie eine Schule, die als Beleg dafür herhalten könnte, dass ausgerechnet an einer Privatschule das Gegenteil möglich ist: Offenheit, Integration, Chancengleichheit. Doch Schäfer will sich nicht abgrenzen, von niemandem, auch nicht vom bayerischen Gymnasium. "Das war eine harte Zeit", sagt sie nur. Und erzählt dann, was sie noch alles im Wedding vorhaben.

© SZ vom 25.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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