Mit Freiheit umzugehen ist kein Kinderspiel, denn es bedeutet: Grenzen setzen und Verantwortung übernehmen. Das mussten Chiara und die anderen erst lernen. Die Stopp-Regel ist eine der ersten, die sie ausmachen. Wem ein Spiel zu wild wird, der sagt Stopp. Dann muss Schluss sein. Hält sich das Gegenüber nicht daran, kann man eine Anzeige ans Justizkomitee schreiben. Dort verhandeln sie den Fall.
Chiara war zehn Jahre alt, als sie anfing, mit anderen Kindern zwischen fünf und 16 Jahren und mit Hilfe einiger erwachsener Mitarbeiter eine Gesellschaft im Kleinen aufzubauen, die Sudbury-Schule in Ludenhausen, rund eine Stunde südwestlich von München. Demokratische Schulen nach dem Sudbury-Modell haben mit einer Regelschule so viel gemein wie ein Ameisenhaufen mit einem aufgeräumten Schreibtisch. Wer das erste Mal eine besucht, wundert sich über Kinder, die überall mit Spielen beschäftigt sind. Sie können machen, was sie wollen, solange sie Rücksicht aufeinander nehmen, und sich alles, was sie machen wollen, selbst organisieren. Es gibt keine Angebote in Form von Fächern oder Unterricht nach Lehrplan. Folglich gibt es auch keine Lehrer, keine Klassen, keine Noten. Wollen Schüler einen Abschluss machen, erhalten sie Unterstützung und können die Prüfungen an Regelschulen ablegen.
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Rund 40 Schulen weltweit orientieren sich an diesem Modell. Sie greifen auf die Strukturen zurück, nach denen sich die 1968 gegründete Mutterschule organisiert, die Sudbury-Valley-School nahe Boston in Massachusetts. Alle Entscheidungen werden von Schülern und Mitarbeitern in der wöchentlichen Schulversammlung getroffen und wiederkehrende Themen können an gewählte Komitees delegiert werden. Die Kinder lernen im Spiel, autodidaktisch oder von anderen Schülern; erwachsene Experten müssen sie sich selbst suchen. Der Grundgedanke ist, dass jedes Kind in seinem eigenen Tempo lernt. Manche beginnen erst mit zwölf zu lesen, aber alle lesen irgendwann.
"Ich fand es komisch, dass es keine Klassenräume gab und überall die Türen offenstanden. Ich dachte, man sucht sich hier nur die Fächer aus", erzählt Chiara von ihrem ersten Schulbesuch im Sommer 2014. Für einige Kinder ist diese Freiheit schwer auszuhalten. Vor allem aber gehört viel Vertrauen von Eltern und den Behörden dazu. Groß ist die Angst, dass die Kinder dort nichts lernen. Doch hängt es davon ab, was man unter Lernen versteht. Ob Kinder zum Beispiel in Altersstufen unterteilt und an den Bildungszielen von Lehrplänen gemessen werden.
Schule und Behörde werden sich nicht einig
Andreas Ofenbeck, Sprecher des bayerischen Kultusministeriums, das für die Lehrpläne im bayerischen Bildungswesen zuständig ist, formuliert die Haltung dazu so: "Es ist durchaus möglich, auf einem alternativen Weg zum gleichen Lehrziel zu kommen. Nur muss dieses gleiche Lehrziel eben erreicht werden." Inzwischen ist Chiaras Schule geschlossen, denn zu Beginn dieses Schuljahres wurde die Genehmigung von der Regierung von Oberbayern als zuständiger Schulaufsichtsbehörde nicht verlängert. Das Lehrpersonal sei nicht genügend qualifiziert, die Ausstattung der Schule nicht ausreichend und der Nachweis des Mindestbildungsstandards nicht erfüllt worden.
In den vergangenen zwei Jahren waren sich Schule und Behörde besonders über den letzten Punkt der Auflagen, die an die Genehmigung geknüpft waren, nicht einig geworden. Und vielleicht war der Versuch seitens der Verantwortlichen der Sudbury-Schule naiv, die Schulbehörde mit einer kreativen Dokumentation der Lernfortschritte der Kinder zu überzeugen. Sie wollten sich aber auch nicht verbiegen lassen. Und so wird nun voraussichtlich das Verwaltungsgericht entscheiden, ob die Schule geschlossen bleibt.
Chiara begann ihre Schullaufbahn an einer Montessori-Schule. Als ihre große Schwester auf die Realschule wechselte, kam auch Chiara auf eine Regelschule, das war logistisch einfacher. Es gab nicht den einen Vorfall, der aus dem neugierigen Kind eines machte, das sich immer mehr zurückzog und nichts mehr lernen wollte. Sie war keine Außenseiterin, aber den Lehrern gegenüber schüchtern. Oft verstand sie die Hausaufgaben nicht. Ebenso wenig, warum sie alles so machen musste, wie es ihr vorgegeben wurde. Chiara bekam schlechte Noten und Bauchweh. Jeden Morgen hatte sie Angst, in die Schule zu gehen. Als sie mit einer Sechs in Mathe nach Hause kam, hatte sie auch Angst vor ihren Eltern.
"Die meisten halten ihre Kinder ja für die klügsten, aber irgendwann waren wir wirklich verunsichert", erinnert sich Chiaras Mutter, Kathy Sollmann-Hergert. In der vierten Klasse ist von der verspielten Leichtigkeit, die ihre Jüngste als Kleinkind hatte, nichts mehr da. Auch die mittlere der drei Töchter hat Probleme in der Schule, die Eltern testen ihre Mädchen auf Legasthenie und Dyskalkulie, suchen verschiedene Schulpsychologen auf, fahren mit Chiara zum Gehirntraining, damit sie lernt, aufmerksamer zu sein. "Es ist krass, was man alles macht, damit die Kinder schulkonform werden", sagt Kathy Sollmann-Hergert heute. An den eigenen Kindern zweifeln wollen sie nicht. Aber was, wenn sie wirklich nicht klug genug sind für die Schule? Als sie einen IQ-Test machen lassen, stellt sich heraus, dass beide in einigen Bereichen hochbegabt sind.
Die meisten Kinder kommen im Regelschulsystem gut zurecht, doch Chiara ist kein Einzelfall. Manche Kinder tun sich schwer. Das zeigt beispielsweise eine Studie der Universität Würzburg, die auf die hohe Stressbelastung von Kindern beim Übertritt auf weiterführende Schulen hinweist. Oder der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, der auf den Zusammenhang zwischen Schulstress und der Zunahme psychosomatischer Symptome wie Kopfschmerzen und Bauchweh, aber auch ernsthafter Erkrankungen wie Depressionen aufmerksam macht. Und immer wieder dringen Bildungs-, Hirn-, Sozial- und Zukunftswissenschaftler auf grundsätzliche Reformen. So entsteht der Eindruck, dass eine breite Kluft herrscht zwischen Schule, wie sie ist, und Schule, wie sie sein könnte.
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Familie Sollmann-Hergert suchte schon lange nach Alternativen, als sie im Sommer 2014 von der Gründung der Sudbury-Schule lesen. Es scheint der Schlüssel zum Glück zu sein. Doch der Anfang ist schwer. Chiara ist schüchtern und vermisst ihre alten Freundinnen. Sie weiß nicht, wohin mit sich, verbringt viel Zeit in der Bibliothek und im Computerraum. Dann freundet sie sich mit zwei Mädchen an, sie verschwinden in ausgedachte Abenteuer nach draußen. Doch bald gibt es ständig Streit, Chiara fühlt sich nicht wohl, das Bauchweh kommt zurück, die Eltern fragen sich, ob ihr Kind depressiv ist. Sie zweifeln an der Schule. "Die Anfangszeit hat an den Grundpfeilern unserer Familie gerüttelt", erzählt Kathy Sollmann-Hergert.
In Regelschulen sind sich die Kinder ähnlicher. An der Sudbury-Schule landen viele, die als Problemkinder abgestempelt wurden, Fälle von Legasthenie, Mobbing, Aspergersyndrom, Kinder, die nicht mehr spielten und nicht mehr lernten. Die Eltern treffen sich einmal im Monat zum Elternabend. Während einige ihre Kinder wieder von der Schule nehmen, versucht Familie Sollmann-Hergert, ihrer Tochter und dem Sudbury-Modell zu vertrauen.
Chiaras Freundinnen schließen sie aus, wenn ihnen irgendwas nicht passt. Chiara versucht, mit ihnen zu reden - ohne Erfolg. Sie will nicht zurück in die Regelschule, aber sie kann auch nicht zu Hause bleiben. In Deutschland gibt es Schulzwang, daran müssen sich auch die Kinder an der Sudbury-Schule halten. Dann entdeckt Chiara, dass sie sich wehren kann gegen die Freundinnen, die sie so oft ausschließen, wenn ihnen etwas nicht passt: "Irgendwann habe ich mich getraut, eine Anzeige ans Justizkomitee zu schreiben." Die Mädchen sind kurz eingeschnappt, aber das renkt sich wieder ein. Langsam wachsen die Kinder zu einer Gemeinschaft zusammen, sie haben gelernt, ihre persönliche Freiheit mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft zu vereinbaren.
Chiara beginnt, für die anderen Schüler und Mitarbeiter zu kochen. Sie schaut sich einiges bei ihrer Mutter ab und sieht sich auf Youtube Lernvideos an. Jeder, der mitessen will, trägt sich in eine Liste ein und bezahlt drei Euro. Wenn Chiara, das Kind mit der Sechs in Mathe, beim Einkauf gut kalkuliert, kann sie Gewinn machen. "Einmal habe ich an einem Tag 17 Euro verdient", erzählt sie stolz. Als sie Reiten lernen möchte, bereitet sie einen Antrag für die Schulversammlung vor. Sie sucht Schüler, die mitmachen, telefoniert Reitställe ab, verhandelt die finanziellen Konditionen und organisiert einen Fahrdienst. Dem Antrag wird stattgegeben. Als Nächstes wollte sie einen Mathekurs ins Leben rufen, doch dazu kommt es nicht mehr.
So erfolgreich sich Chiaras Geschichte liest, so schwer ist es, die Geschichten vom Misserfolg an demokratischen Schulen zu erzählen, die es natürlich auch gibt. Simone Kosog, die sich um die Öffentlichkeitsarbeit der Sudbury-Schule kümmert, bittet um Verständnis, dass sie einem jetzt auf keinen Fall eine Familie zum Gespräch vermittelt, die ihr Kind wieder von der Schule genommen hat, das sei missverständlich. Zwei demokratische Schulen in Berlin brechen begonnene Gespräche über einen Besuch ab, nachdem sie von der Schließung in Ludenhausen erfahren haben.
Die europäische Gemeinschaft für demokratische Bildung, kurz Eudec, verzeichnet auf ihrer Karte 17 demokratische Schulen in Deutschland, die Mitglied des Vereins sind. Viele dieser Schulen existieren noch nicht lange und haben Sorge, dass das auch so bleibt. Diese Sorge kann Henrik Ebenbeck verstehen, auch wenn er sie nicht teilt, nicht mehr. Er ist Mitarbeiter an einer der ältesten demokratischen Schulen Deutschlands, der Freien Schule Leipzig. Sie ist ein klassisches Wendekind, und die ersten Jahre nach der Gründung wurschtelten sie dort im allgemeinen Chaos vor sich hin.
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Auch er berichtet davon, wie die Schulaufsicht ihnen immer wieder Steine in den Weg gelegt hat. "Den massiven Kontrast zum Regelschulsystem empfinden viele als Bedrohung." Demokratische Schulen sind eine sehr spezielle Schulform, die nicht für alle richtig ist. Manche Menschen fühlen sich in klaren Hierarchien wohler. "Es gibt wenig dazwischen, wenig Vielfalt", sagt Henrik Ebenbeck. Manche Eltern trauen ihren Kindern das selbstbestimmte Lernen nicht zu, auch das kann zu Konflikten führen. Deswegen haben sie für ihre Schule eine Besucherregel eingeführt: "Wer sich von uns ein Bild machen will, muss mindestens drei Tage bleiben. Die meisten denken, dass man ohne Druck nicht lernen kann. Das haben sie im Regelschulsystem selbst so erfahren", erklärt Henrik Ebenbeck. Es braucht aber Zeit, die Ordnung des Ameisenhaufens zu verstehen.
Zur Schließung der Sudbury Schule steht Christina Rölz, stellvertretende Pressesprecherin der Regierung von Oberbayern, zum Gespräch zur Verfügung. Als Aufsichtsbehörde haben sie einen begrenzten Handlungsspielraum und mit Kindern wolle man nicht experimentieren. "Wir verstehen, dass für die Kinder ein Schulwechsel im ersten Moment dramatisch ist. Es geht uns aber zu jedem Zeitpunkt um das Wohl der Kinder. Die Chancengleichheit von Sudbury-Schülern im Vergleich zu Regelschülern sahen wir, trotz intensiver Prüfung, nicht gewährleistet", sagt sie. Aber genau dafür seien sie als ausführende Behörde eben verantwortlich.
Doch gibt es diese Chancengleichheit überhaupt im bestehenden Schulsystem? Sind Impulse, wie sie aus diesen Schulen kommen, nicht wichtig und wünschenswert? Für solche Grundsatzfragen verweist Christina Rölz an das bayerische Kultusministerium. Dort will sich Sprecher Andreas Ofenbeck nicht festlegen. Man habe auch schon schlechte Erfahrungen gemacht. In Sachen Sudbury-Schule sagt er: "Das Kultusministerium war bei der Genehmigung mit Interesse dabei. Wir waren gespannt, was am Ende dabei herauskommt."
Das Ende kam schneller als gedacht. Das Sudbury-Konzept braucht Zeit, und es widerspricht seinem Grundgedanken, in zwei Jahren Lehrziele nachzuweisen, die in die Fächer- und Bewertungskategorien eines Lehrplans passen. Das hätten beide Seiten wissen müssen. Von Anfang an. Am Ende bleibt diese Geschichte vielleicht ein großes Missverständnis.
Und Chiara? Die Zwölfjährige ist momentan daheim, sie kann sich gerade keine andere Schule vorstellen. Von der Schulpflicht ist sie deswegen nicht ausgenommen, die Eltern gucken sich derzeit Alternativen an. Wie auch immer es weitergeht, das Mädchen hat in der Schule in Ludenhausen trotzdem viel gelernt, vor allem hat sie ihre Angst hinter sich gelassen: "Im Garten hinter der Schule steht ein großer Baum. Wenn man den untersten Ast geschafft hat, kann man bis oben klettern", sagt Chiara. Sie kommt längst bis ganz hinauf.