Joachim Schultz, 63, Literaturwissenschaftler an der Universität Bayreuth, hätte noch zwei Jahre lehren müssen bis zum Ruhestand. Die Universitätsreform, also der sogenannte Bologna-Prozess mit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen, und die Auswirkungen der Studiengebühren auf das Klima an der Hochschule haben ihn dazu bewogen, vorzeitig in Pension zu gehen.
Herr Schultz, Dozent für praxisorientierte Themen rund um den Literaturbetrieb - hört sich wie ein Traumberuf an.
Wissen Sie, ich habe mich in den letzten zehn Jahren, seit der Reform der Universitäten, wie von Bürokratie umzingelt gefühlt. Ich kenne sehr viele Kollegen, die exakt dasselbe empfinden - aber keine Konsequenzen daraus ziehen. Ich wollte das anders machen: Also höre ich auf.
Was genau hat Sie dazu bewogen?
Ich hatte den Eindruck, nicht mehr das machen zu können, was ich als meine Aufgabe empfinde: Studenten zu kreativer Arbeit anzuleiten. Der Stundenplan in den Geisteswissenschaften ist nach der Bologna-Reform verschult und abgezirkelt, die Spielräume sind eng. Zusammen mit den Studiengebühren, die es in Bayern ja immer noch gibt, bleibt den Studenten für Kreatives kaum Zeit. Sie müssen schließlich Geld verdienen.
Nebenher, ja.
Ich lehre berufsbezogene Literaturwissenschaft. Man möchte meinen, dass Studenten Zeit und Interesse an einer Fahrt zum Literaturarchiv nach Marbach haben. Aber sowas ist kaum noch möglich.
Studenten der Literaturwissenschaft haben kein Interesse an einer Studienfahrt ins Marbacher Literaturarchiv?
An einem Werktag, sagen mir Studenten, verpassen sie zu viele wichtige Seminare, und alles ist prüfungsrelevant. Und am Wochenende muss ja das Geld für die Studiengebühren verdient werden.
Also keine Exkursion nach Marbach.
Was ich über Marbach wissen sollte, das finde ich unter Umständen auch im Netz, sagt man mir. Unter Studenten hat sich eine Mentalität entwickelt, wie sie möglichst schnell zu den für sie wichtigen "Leistungspunkten" im Studium kommen. Unter den Gegebenheiten kann man ihnen das nicht mal vorwerfen.
Aber deshalb wirft man doch so einen Beruf wie den Ihren nicht vorzeitig hin.
Natürlich nicht, das sind die kleineren Probleme, auch wenn diese ja merkwürdig genug sind. Das größere Problem ist, dass mir fast alle Kollegen sagen: Was man früher in fünf Jahren gemacht hat, muss man heute in drei machen. Als es alle gesagt haben, wurde der straffe Plan gelockert, aber gut wurde es nicht mehr.
Sorgen Sie sich um das Bildungsideal von Humboldt?
Man muss das gar nicht so hoch hängen. Das primäre Problem ist: Die Studenten bekommen an der Hochschule kaum noch das Rüstzeug, das sie für einen Job brauchen. Also, um Hochschullehrer zu werden, reicht das nicht aus, was heute vermittelt wird. Für Kulturjournalismus, die Arbeit an einem Literaturarchiv auch nicht. Ich habe den Eindruck, dass wir hier primär nur noch das akademische Prekariat ausbilden. Wenn ich die Berufsbiografien meiner Studenten verfolge: Zeitlich begrenzte Jobs, schlecht bezahlt, das sieht nicht gut aus.
Ziel der Reform war genau das Gegenteil: die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.
Die beiden Hauptziele der Reform können kaum erreicht werden. Jemand mit einem Bachelor bekommt im Bereich Geisteswissenschaften selten einen guten Beruf mit akzeptablem Gehalt. Das heißt: Die meisten müssen trotzdem noch einen Master dranhängen, dann haben sie wieder fünf Jahre studiert. Ziel eins, die Studienzeitverkürzung, wird so nicht erreicht. Ziel zwei, die europaweite Durchlässigkeit, sollte ja sein: Bachelor in Bayreuth, Master in Montpellier. Auch das funktioniert nicht richtig: Ich hatte eine Studentin, die wollte nach dem Bachelor in England weiterstudieren. 20 Bewerbungen musste sie schreiben, ehe sie irgendwo angenommen wurde.