Der Schriftsteller Saša Stanišić hat das Deutsch-Abitur zweimal geschrieben. Als 19-Jähriger in Heidelberg über Goethes "Novelle". Und als 41-Jähriger über seinen eigenen Roman "Vor dem Fest", der dieses Jahr in Hamburg neben Werken Lessings und Fontanes Abiturthema war. Die Klausur war inszeniert, ein Gag, doch was Stanišić darüber sagte, klingt plausibel. Er habe Goethe leichter gefunden, weil man da nur geschickt die Sekundärliteratur habe umschreiben müssen. "Bei Stanišić gibt es die so gut wie gar nicht, also muss man richtig selber nachdenken", sagt Stanišić. Die Prüfung verlangte unter anderem, sein Buch literaturwissenschaftlich einzuordnen.
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Hat er recht? Die heutige Aufgabe soll die schwerere sein, obwohl doch so viele den Qualitätsverfall des Abiturs beklagen? Und ist es leichter, geschickt aus der Gedankenarbeit anderer zu schöpfen, als eigenständig zu denken - ja, geht das eine ohne das andere überhaupt? Die bundesweiten Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) für das Deutsch-Abitur sprechen auf den ersten Blick für Stanišić. Drei Anforderungsbereiche nennt die KMK: die Wiedergabe von Sachverhalten und Kenntnissen, die Herstellung von Zusammenhängen, das Reflektieren und Beurteilen. Das wirkt wie ein Siegertreppchen des Intellekts, die edelste Fähigkeit zuoberst.
Doch so einfach ist es nicht. Der Schwerpunkt des Deutsch-Abiturs soll nicht etwa beim Reflektieren, sondern bei den Zusammenhängen liegen, fordert die KMK. Die Begründung: Wer Zusammenhänge herstellt, der wählt aus, ordnet, verarbeitet, erklärt. Er überträgt gelernte Verbindungen auf vergleichbare neue Sachverhalte - etwa, wie ein noch junger Text literaturwissenschaftlich einzuordnen ist. Und in diesem komplexen Miteinander von Wahrnehmen, Denken, Erkennen, Transferieren bringt der Schüler alle Kompetenzen ein, die das moderne Abitur ganz offiziell verlangt: lesen und schreiben, sich mit Texten und Medien auseinandersetzen, Sprache und Sprachgebrauch reflektieren.
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Die Prüfungen sind geschrieben, die Abiturienten feierlich verabschiedet. Doch die Ergebnisse unterscheiden sich in den einzelnen Bundesländern teils deutlich. Ein erster Überblick.
Dieses Abitur resultiert aus etlichen Reformschritten, die im Schulsystem erfolgten, nachdem deutsche Schüler bei der Pisa-Studie 2001 erschreckend mittelmäßig abgeschnitten hatten. Heute stehen sie viel besser da. Trotzdem wird die Reifeprüfung unablässig für ihren angeblichen Niedergang gerügt. Schuld daran seien nicht zuletzt die immer leichteren Abituraufgaben.
Ein Anruf beim Stark-Verlag in Oberbayern. Der Marktführer in Sachen Abiturvorbereitung verlegt seit 40 Jahren für ein Dutzend Bundesländer Bücher, in denen Lehrer die Aufgaben vom Vorjahr vorbildhaft lösen. Andreas Bernhardt leitet die Redaktion Deutsch und Gesellschaftswissenschaften, er hat auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung mit Kollegen aus den Ressorts Geschichte und Erdkunde Aufgaben der Achtziger- und Neunzigerjahre gesichtet.
"Unterschiede zu heute weniger gravierend"
"Wir waren selbst überrascht, dass die Unterschiede zu heute weniger gravierend ausfallen, als man erwarten könnte", sagt Bernhardt. Noch immer würden in Erdkunde Klimadiagramme Orten zugeordnet, auch in Geschichte seien die Aufgabenformate ähnlich wie früher. In Deutsch seien die Literaturinterpretationen weitgehend gleich geblieben. Verschwunden ist dagegen die freie Erörterung, Aufgaben wie diese mit selbst zu wählender Textgrundlage gibt es nicht mehr: Zeigen Sie an einem epischen oder dramatischen Werk, wie sich der Autor mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzt! Stattdessen sei das materialgestützte Schreiben "in Mode", bei dem Schüler verschiedene Quellen für ihre eigenen Texte nutzen. "Viele Aufgaben sind jetzt länger und facettenreicher, und man bekommt mehr Material, um sie zu lösen", resümiert Bernhardt.
Den Trend zur Komplexität sieht auch Andrea Krampert, Leiterin der Fremdsprachen-Redaktion im Verlag. Eine Aufgabe wie Translate the following text into German sei im Englisch-Abitur nicht mehr üblich. Die Übersetzung ist der "Mediation" gewichen. Der Abiturient muss dabei Inhalte aus einem deutschen Text für einen bestimmten Zweck auf Englisch aufbereiten, etwa für eine Jugendwebsite. "Beide Verfahren haben ihre Schwierigkeiten", antwortet Krampert auf die Frage, was schwerer sei. Bei der Übersetzung müsse man sehr genau mit der Sprache umgehen, bei der Mediation die Inhalte passend zur Situation vermitteln, dafür sei man sprachlich freier. Zählt man den heute gängigen Hörverstehenstest dazu und die umfangreiche Textaufgabe, die wie früher Kernstück der Prüfung ist, dann liegen im bayerischen Englisch-Abitur auf Leistungskursniveau vor den Prüflingen 14 Seiten Material. Vor 20 Jahren waren es vier.
Näher am Leben
"Vielfältiger und näher an der Sprachverwendung im Leben" erlebt die ausgebildete Lehrerin das jetzige Fremdsprachen-Abitur. Mit einem Wort: nützlicher. Diesen Fortschritt sieht ihr Kollege Richard Lewandowsky auch. Der Mathematiker und promovierte Physiker sagt: "Früher schrieb ein gutes Mathe-Abi, wer gut mit Rechenverfahren klarkam. Die konnte man lernen, wie ein Kochrezept." Ein Anwendungsbezug habe meist gefehlt, "die Funktionen fielen sozusagen vom Himmel".
Gegeben ist die in IR \ {2} definierte Funktion f: x → 1-x² / 2 (2-x) so begann 1985 eine Aufgabe, gefolgt von Aufträgen zur Kurvendiskussion.
Heute ist die Aufgabenkultur anders. Neben innermathematischen Inhalten spielen Zusammenhänge, mathematisches Verständnis, verschiedene Lösungswege eine Rolle. "Man besinnt sich auf Mathematik als Instrumentarium zum Problemlösen", sagt Lewandowsky. Die Schüler müssten einen Sachkontext mathematisieren, die Zu- und Abflussrate eines Wassertanks etwa, und auf die Funktion zur Lösung der Aufgabe selbst kommen. "Für den geübten Rechner, der wenig Sinn für andere Seiten der Mathematik hat, ist das Abitur schwerer geworden", sagt Lewandowsky. "Für den, der besser argumentieren als rechnen kann, ist es heute leichter."
Lieb sind ihm die Kategorien schwerer/leichter aber nicht, sie seien viel zu undifferenziert. "Wer das heutige Abitur eins zu eins mit dem früheren vergleicht, ignoriert den inzwischen völlig anderen didaktischen Geist. Er vergleicht Äpfel mit Birnen."