Pflegeskandal in Fischbachau:"Die schlagen die Leut'"

Lesezeit: 4 min

Wenn einer die Krise kriegt: Ehemalige Mitarbeiter eines sozialtherapeutischen Heims sollen in 13 Fällen geistig behinderte Menschen misshandelt haben.

Dietrich Mittler

Hätte Stefan Lück geschwiegen, so wäre er jetzt vermutlich eine Führungskraft in der sozialtherapeutischen Einrichtung "Neuer Weg", die im oberbayerischen Fischbachau und in Hausham geistig behinderte Menschen mit schweren Störungen betreut. Doch Lück wollte seinen Mund nicht halten.

Er erinnert sich noch gut an den Moment, als er seine Vorgesetzte mit den Worten konfrontierte: "Die schlagen die Leut'." Von diesem Augenblick an geriet das Leben des 28-jährigen Sozialpädagogen Stefan Lück aus den Fugen. Doch nicht nur seines: Die Staatsanwaltschaft München II ermittelt mittlerweile gegen den ehemaligen Heimleiter der sozialtherapeutischen Einrichtung und drei seiner Mitarbeiter wegen gemeinschaftlicher Misshandlung von behinderten Menschen in 13 Fällen. Drei der Beschuldigten sitzen derzeit noch in Untersuchungshaft. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung haben zwei von ihnen Teilgeständnisse abgelegt.

"Das ist aus Sadismus geschehen"

Sollten sich die Vorwürfe gegen die vier Männer erhärten, so wurden Heimbewohner in den Häusern des Neuen Weges in Fischbachau und in Hausham systematisch durch Schläge und Tritte eingeschüchtert und gefügig gemacht. "Wenn die beschuldigten Kollegen die Tür des Patientenzimmers hinter sich zumachten, dann war das für uns das Zeichen, dass es wieder rundgeht", sagt Lück, der nach eigener Aussage gleich mehrere Misshandlungen mit eigenen Augen gesehen hat. "Das ist aus Sadismus geschehen und nicht etwa aus Überforderung", sagt er.

Sätze wie diese haben dem 28-Jährigen eine Menge Ärger eingebracht. Einer der Beschuldigten hat ihn wegen Verleumdung angezeigt. Lück erstattete seinerseits Strafanzeige wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen. Im achtstündigen Verhör schilderte der gebürtige Augsburger der Kriminalpolizei schließlich auch, wie im Oktober 2007 der randalierende Hausbewohner Marc S. ruhiggestellt wurde.

"Mit einem Fuß auf den Hoden gestiegen"

An diesen Vorwürfen hält er bis heute fest: "Unser Krisenmanager ist sofort auf den Bewohner los, der bereits ruhig am Boden lag. ""Ach Marc, hast du wieder eine Krise?', hat er zu ihm ganz lässig gesagt und ist ihm dabei mit einem Fuß auf den Hoden gestiegen", berichtet Lück. Dann habe Stephan B. die Kollegen gebeten, rauszugehen - mit den Worten: "Könnt ihr bitte das Zimmer verlassen, ich brauche jetzt Platz für meine künstlerische Freiheit."

Kurz darauf seien gellende Schmerzensschreie durch die geschlossene Tür gedrungen. Stephan B. ließ diese Beschuldigung nicht auf sich sitzen. Er legte der Polizei in Miesbach eine vom Heimbewohner Marc S. unterzeichnete Erklärung vor: Der Vorwurf der Misshandlung sei falsch. Doch dann geschah etwas Unvorhergesehenes: Marc S. behauptete im Zeugenstand vor dem Amtsgericht Miesbach plötzlich das Gegenteil: Ihm sei sehr wohl auf den Hoden getreten worden. Plötzlich ging alles Schlag auf Schlag: Die Staatsanwaltschaft München II nahm Ermittlungen auf und erwirkte gegen Stephan B. und weitere zwei Pflegekräfte einen Haftbefehl wegen Flucht- und Verdunklungsgefahr.

Aber auch der ehemalige Heimleiter geriet unter Verdacht. Er habe letztlich die Losung ausgegeben, bei den Heimbewohnern Angst und Schrecken auszulösen. In München hat Oberstaatsanwältin Regina Sieh den Fall zur Chefsache gemacht. Zahlreiche Zeugen, darunter viele ehemalige Heim-Mitarbeiter, wurden bereits vernommen.

Drei Todesfälle werden neu aufgerollt

Drei zurückliegende Todesfälle in der Einrichtung, die bereits als abgeschlossen galten, werden jetzt neu aufgerollt. Zumindest bei einem der Toten haben Gerichtsmediziner nach Auskunft der Staatsanwaltschaft München II Spuren von Misshandlungen festgestellt - unter anderem am Kehlkopf. "Die Gerichtsmedizin konnte aber nicht mit der für uns erforderlichen Sicherheit Aussagen dazu treffen, ob diese Verletzungen die Todesursache waren", sagte Sieh. Wie sie bestätigte, liegen der Staatsanwaltschaft Angaben darüber vor, dass Heimbewohner auch mit Handtüchern gedrosselt worden sein sollen.

Bei Hausdurchsuchungen stellten die Ermittler umfangreiches Material sicher, darunter Videoaufnahmen, auf denen möglicherweise gezielt provozierte Zwischenfälle mit Heimbewohnern für Schulungszwecke festgehalten wurden. Allerdings wurde dieses Material noch nicht gesichtet. "Wir stehen erst am Anfang", sagte Sieh. Der Schwerpunkt der Ermittlungsarbeit liege derzeit auf den Zeugenvernehmungen. Mittlerweile hätten über Stefan Lück hinaus bereits mehrere Personen von Misshandlungen in der Einrichtung berichtet. Nach Angaben von Oberstaatsanwältin Sieh ist einer der vier Männer wieder auf freiem Fuß. "Er hat sich gegenüber der Staatsanwaltschaft kooperativ gezeigt", sagte sie.

Dennoch weiß die Oberstaatsanwältin, dass sie sich mit der Übernahme des Falls keine leichte Aufgabe aufgebürdet hat. Aussage steht gegen Aussage, und das ist nur ein Problem unter vielen. Die Ermittler stoßen auf eine Welt, die fremd und unüberschaubar wirkt.

Die Patienten der Einrichtung sind durchweg selbst hoch aggressiv - gegen sich selbst und gegen andere. "Endzeitfälle", notierte einer der Beamten, der mit dem Fall befasst ist. Viele der Heimbewohner sind Autisten, Leute "mit problematischen und gruppensprengenden Verhaltensweisen", wie es in der Pflegevereinbarung des Bezirks Oberbayern mit der "Neuer Weg GmbH" heißt. Ob von ihnen zuverlässige Aussagen kommen, bezweifeln nicht nur die Anwälte der Beschuldigten. Heimbewohner Marc S. etwa hat auch seine Aussage, ihm sei auf den Hoden getreten worden, kurz darauf widerrufen.

Heimbewohner nicht mit Medikamenten vollgepumpt

In Fachkreisen hat das Betreuungskonzept des Neuen Wegs trotz aller Vorwürfe noch immer einen guten Ruf. Auch der Bezirk Oberbayern, der die Kosten der Heimbetreuung trägt, warnt vor Vorverurteilungen. "Bei uns ist das Entsetzen groß, weil unsere Experten von der Konzeption der Einrichtung überzeugt sind", erklärte eine Sprecherin des Bezirks. Der Neue Weg hebe sich von anderen Einrichtungen dadurch ab, dass die Heimbewohner trotz aggressiver Ausbrüche nicht mit Medikamenten vollgepumpt würden.

"In Krisen werden körpernahe Haltetechniken angewendet, um Bewohner und Mitarbeiter vor Verletzungen zu schützen", sagt die Therapeutin und Sozialpädagogin Christa Ulmer-Thurn, die als Sprecherin der Einrichtung auftritt. Anschuldigungen und Vorwürfen "bezüglich Fehlverhalten gegenüber Bewohnern" sei in der Vergangenheit stets nachgegangen worden. Alle Verdächtigen lehnen eine offizielle Stellungnahme zu den Vorwürfen ab, wie sie selbst oder deren Anwälte mitteilen.

Bei der zuständigen Heimaufsicht in Miesbach waren in den zurückliegenden Jahren mehrere anonyme Beschwerden eingegangen. "Mit allerdings sehr ungenauen Angaben", wie es aus dem Landratsamt Miesbach heißt - "etwa in dem Stil: ,da hat einer jemanden geschlagen'." Daraufhin sei die Heimaufsicht unangemeldet in die Häuser gegangen, habe aber keine Spuren von Misshandlungen gefunden.

Stefan Lück bleibt indessen bei seinen Aussagen. "Das erste, was man mir 2007 bei der Einführung in die neue Stelle sagte, war: ,Du bist kräftig, das genügt. Einem Behinderten glaubt sowieso keiner'." Auch Lück fällt es schwer, den von ihm beschuldigten Krisenmanager Stephan B. als schlechten Menschen zu charakterisieren: "Das ist eigentlich ein ganz angenehmer Kerl", sagt Lück. Und es passe auch gar nicht in das Bild eines brutalen Schlägers, dass Stephan B. seine Freizeit dafür opferte, um mit den Behinderten etwas gemeinsam zu unternehmen.

Aber da sei eben auch diese andere Seite in ihm: Stephan B. präsentiert sich in einem Internetforum unter anderem mit dem Foto eines gerade aufgeschlitzten Fisches im blutgetränkten Wasser. Das Bild hat die Unterzeile: "Meine Konfliktstrategie."

© SZ vom 15.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: