Oberbayern:Der Barbier von Eisenfelden

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Das pralle Leben: Friseur Thomas Schmidt hört sich Freud und Leid seiner Kunden an. Dazu gibt er schon mal ein Bier aus. (Foto: Johannes Simon)

Bis zum Rauchverbot gab es Zigarren zum Haarschnitt, heute immer noch ein Bier: Thomas Schmidt versteht etwas von Kundenbindung. Sein Geschäft im Landkreis Altötting wirkt wie ein Museum. Dabei gehört der Friseur in gewisser Hinsicht schon wieder zur Avantgarde.

Von Rudolf Neumaier, Winhöring

Sein Großvater war Friseurmeister. Sein Vater war Friseurmeister. Und er, er wollte auch Friseur werden. Immer schon, sagt er. Was denn sonst? Als die anderen Buben von einem aufregenden Leben im Pilotencockpit träumten oder vom Ruhm der Fußballstars, da träumte Thomas Schmidt schon vom Haareschneiden. Etwas Schöneres kann es nicht geben, sagt er. Immer noch, nach 31 Berufsjahren.

Eisenfelden ist so etwas wie das Industriegebiet der Gemeinde Winhöring. In der Umgebung gibt es einen Schrottplatz, einen Kranverleih, eine ehemalige Stripbar und einen ruinösen Bahnhof, schade um die schöne Klinkerfassade.

Gegenüber dem Bahnhof steht ein Häuschen, das am hellsten strahlt in dieser Gegend: der Friseurladen von Thomas Schmidt. Die Bundesstraße 588 ging hier vorbei. Früher, vor der Ortsumgehung. Jetzt wirkt die Ecke verlassen. Wer hier etwas sucht, der sucht einen Geheimtipp.

Das Friseurhäusl von Eisenfelden ist beides zugleich: ein Geheimtipp und eine Institution im Coiffeurwesen des Landkreises Altötting. Die älteren Kunden nennen ihn den "Zigarnfriseur", weil sie sich zum Haarschnitt eine Zigarre aussuchen durften, ehe das Rauchverbot kam.

Kinder bekommen Schokolade - eine ganze Tafel

Zwei Zigarrenschachteln stehen bei Thomas Schmidt heute noch über der Kasse: "Tropenschatz Corona" und "Midi Rillos" mit Plastikfilter - der Schwager versorgt ihn, der arbeitet in einem Tabakgeschäft. Der Friseurmeister Thomas Schmidt, 46, verheiratet, zwei Kinder, versteht etwas von Kundenbindung. Nur gibt er die Zigarren den Kunden heute mit nach Hause, alternativ kippt er ihnen eine Prise Schnupftabak auf den Handrücken. Und Kindern steckt er Schokolade zu - aber eine ganze Tafel.

Bier bekommt der Kunde gratis zum Haarschnitt dazu. Helles, Pils, Weißbier, vom Müller-Bräu aus Neuötting, der Brauereichef ist Kunde seit Urzeiten - einer der vielen Honoratioren aus der regionalen Wirtschaft, die Schmidt aufzählt. Alles Stammkunden, einige millionenschwer, darunter 15 Wirte zwischen Töging und Kirchweidach. Wirte sind die besten Multiplikatoren für Mundpropaganda in Zeiten, in denen sich gestandene Geschäfte selbst auf dem Land gegen die Konkurrenz von Kaufhausfriseuren behaupten müssen.

Aber gleichgültig, ob der Kunde mit seiner Firma Weltmarktführer im Landmaschinenbau ist oder eine Bankfiliale leitet oder Straße kehrt: Wer gerade an der Reihe ist, kommt dran, und wer warten muss, muss warten. Termine vergibt Thomas Schmidt nicht. Das haben sein Großvater und sein Vater auch nicht gemacht.

Die Haarschneidemaschine stammt aus der Nachkriegszeit

Viel hat sich nicht verändert, seit er hier vor 31 Jahren mit der Lehre anfing. Der Salon böte eine wunderbare Kulisse für einen Dorffriseurfilm, der in den Siebzigern spielt. Gegenüber der Eingangstür steht ein Ölofen, eine Mauer dahinter teilt den Raum in zwei Hälften: rechts die Damen, links die Herren. Diskretion ist wichtig im Beauty-Gewerbe.

Wenn links Witze erzählt werden - und Thomas Schmidt hat Herren, die viele Witze erzählen -, dann ist's oft besser, dass die Kundschaft rechts nichts mitbekommt. Außer dem Gelächter. Und Marina, Schmidts treue Gesellin, hat die Witze schon tausendmal gehört.

Das Interieur hat etwas Museales. Wo gibt es das noch: Trockenhauben, die an ausklappbaren Armen aus der Wand ragen? Kundensessel, die sich per Trethydraulik in die Höhe befördern und mit einfachster Klappmechanik kippen lassen? Die elektrische Haarschneidemaschine, mit einem Kabel an der Wand befestigt, stammt eindeutig aus der Nachkriegszeit, als die Leute noch zum Bader gingen, wenn sie sich einen Zahn reißen ließen. Im Jahr 1951 wurde der Laden eröffnet. Den letzten Zahn riss hier der Großvater.

Mit den alten Baderstühlen hat es eine wesentlich pragmatischere Bewandtnis als Thomas Schmidts Faible fürs Antiquarische. Denn es lassen sich darauf Nackenstützen applizieren, die für Nassrasuren notwendig sind. Thomas Schmidt ist einer der wenigen Friseure in Deutschland, die noch Nassrasuren anbieten.

Der Rasier-Service ist aus der Zeit gefallen, weil sich seit dem Auftreten des HI-Virus in den Achtzigern - "wegn dera Aids-Gaudi", wie Schmidt sagt - Friseure kaum noch trauen, Kunden mit der Klinge zu behandeln - und weil seither die Nachfrage zurückging. Andererseits kann man Schmidt aber auch als Begründer einer Renaissance betrachten.

Letzte Rasur für einen Verstorbenen

"Wir wollen das Thema Nassrasur wieder stärker auf dem Markt platzieren", sagt Christian Kaiser, der Landesinnungsmeister des bayerischen Friseurhandwerks. Bei der "Haare 2014", der Branchenmesse in Nürnberg, war eigens ein Barberforum eingerichtet.

Allerdings verlangen Friseure, die wieder rasieren, mit allem Drumherum zumeist zwanzig bis vierzig Euro. Die Nassrasur bei Thomas Schmidt kostet 8,50 Euro.

Wenn er Mitarbeitern das Rasieren beibringt, üben sie am Luftballon - und wenn der platzt, haben sie etwas falsch gemacht, dann würde der Kunde bluten. Allerdings kann ein Luftballon nicht wohlig grunzen. Wenn in Thomas Schmidts Salon rasiert wird, sind Laute tiefen Behagens zu vernehmen. Eine Rasur wirkt so entspannend wie eine Kur, dauert aber nicht so lange.

Manche Kunden schätzen die Vorzüge ein Leben lang. Oder länger: Einmal, erzählt Schmidt, hätten sie ihn geholt, um einem Toten die letzte Rasur angedeihen zu lassen. Ein Stammkunde. Stoppelig wollte er nicht in die Grube fahren.

Gute Friseure sind mehr als Haarpfleger, sie sind Rundumbetreuer. Man kann sagen, in Thomas Schmidts Salon drücken sich Freud und Leid die Klinke in die Hand. Da kann er am Vormittag eine Hochzeitsfrisur ondulieren und am Nachmittag kreuzt ein Kunde auf, der mehr braucht als einen Haarschnitt, weil ihm die Frau davongelaufen ist: Trost. Das pralle Leben - Schmidt muss darauf gefasst sein.

"Mir gefällt dieser Beruf. Jeden Tag"

Darüber hinaus verfügt er über ein breites Themenrepertoire, von den Ölpreisen bis zur Bundesliga, und diese dann bevorzugt. Seine Liebe zum Fußball lebt er nicht nur bei den Salon-Debatten aus, sondern auch als Schiedsrichter. Mit 46 Jahren darf er noch die unteren Amateurklassen pfeifen. Die Leute, die ihn kennen, rufen ihn nicht Schiri, sondern Boda. Bader.

Im Radio singt Bruce Springsteen. Born in the USA. Und Thomas Schmidt, die Schere in der Rechten, den Kamm in der Linken, denkt über seine Berufung nach. Sein blondes Haar ist stets fein geföhnt, über der Oberlippe trägt er ein gepflegtes Bärtlein. "Mir gefällt dieser Beruf. Jeden Tag", sagt er. "Du kannst d' Leut' schönmachen und dabei immer über das Neueste reden."

Kann es etwas Schöneres geben?

Wer einmal Gioachino Rossinis wunderbare Oper "Der Barbier von Sevilla" gehört hat, kann beim Zigarnfriseur ein Déjà-vu erleben. Die berühmte "Largo al Factotum"-Arie des Figaro hat jeder schon mal gehört, zumindest in der Werbung: "Jedem zu Diensten zu allen Stunden, umringt von Kunden. So wie ich lebe, so wie ich webe, gibt es kein schön'res Glück auf der Welt. Hab' mir die schönste Bestimmung erwählt."

Der Barbier von Eisenfelden würde das sofort unterschreiben.

© SZ vom 22.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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