In seliger Adventsfreude schwelgend, flanieren alljährlich mehr als zwei Millionen Besucher durch den Nürnberger Christkindlesmarkt. Freilich, im vorweihnachtlichen Trubel gerät die finstere Vergangenheit dieses Altstadtareals schnell aus dem Sinn. Genau hier nämlich, entlang des Hauptmarkts, erstreckte sich früher das Nürnberger Judenviertel, das im Jahr 1349 gewaltsam beseitigt wurde. Bei dem Pogrom wurden fast 600 Juden getötet. Die Suche nach den Verantwortlichen für diese mörderische Aktion führt direkt zu dem damaligen König Karl IV., der die Erlaubnis zum Abriss der Häuser erteilt und das Pogrom stillschweigend in Kauf genommen hatte.
Auch dieses dunkle, gerade wegen Karls sonstiger Lebensleistung verstörende Kapitel wird in der ersten Bayerisch-Tschechischen Landesausstellung, die noch bis März im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg läuft, in Erinnerung gerufen. Das Pogrom von 1349 unterstreicht die Eindrücke, die den Besucher gleich nach dem Betreten der Landesaustellung umfangen: Hier geht es um das unbekannte Mittelalter, eine Ära, die allein mit unseren heutigen Vorstellungen von Staat, Gesellschaft und Rechtsnormen nicht zu begreifen ist. Zwar erleben Mittelaltermärkte gerade einen Zulauf ohnegleichen, aber sie verklären mehr, als sie erklären. Schulen und Universitäten, so scheint es, haben vor dem Mittelalter kapituliert. In Forschung und Lehre wird diese Zeit vernachlässigt, das echte Wissen schwindet, nur die Mittelalter-Fantasy boomt.
Umso erfreulicher, dass die Landesausstellung über Karl IV. den Besuchern, die von Donnerstag an Zutritt haben, famose Einblicke in die realen Verhältnisse von damals ermöglicht. Das 14. Jahrhundert war eine Zeit der Krisen, die sogar die Verwerfungen der Jetztzeit weit in den Schatten stellen. In Europa grassierten Naturkatastrophen und Hungersnöte, überdies fiel jeder dritte Europäer der Pest zum Opfer. Kein Wunder, dass Sündenböcke gesucht wurden. Vor allem die Juden mussten dafür herhalten, Pogrome wüteten überall. Diesem Wahn konnte sich offenbar auch ein hochgebildeter Mensch wie Karl IV. nicht entziehen, dem ansonsten viele positive Eigenschaften nachgesagt wurden. Unter anderem war er der erste Herrscher, der eine Autobiografie verfasste.
Nachdem sein schärfster Konkurrent, Kaiser Ludwig der Bayer, 1347 gestorben war, stieg Karl zum unumstrittenen römisch-deutschen Herrscher auf. Als Kaiser saß er ständig im Sattel, um sein Reich zusammenzuhalten. Die Spuren dieses harten Lebens haben sich in sein Skelett eingegraben, das in Prag liegt: die Halswirbelsäule verkrümmt, der Kiefer eingeschlagen, eine Narbe quer übers Gesicht. Trotz aller existenziellen Abgründe erlebten jedoch Architektur, Technik und Kunst einen Aufschwung, besonders in den mit Kaiser Karl verbundenen Reichsstädten. Prag erhielt die erste Universität Mitteleuropas. Aber auch die freie Reichsstadt Nürnberg, der zweithäufigste Aufenthaltsort Karls IV. nach Prag, wurde vielfältig gefördert.
Es bleibt die Frage: Wer kennt heute noch Karl IV.? "In Bayern fast niemand", sagt Ausstellungsleiter Wolfgang Jahn vom Haus der Bayerischen Geschichte. Karls Ruhm blüht vor allem in Tschechien, dort wird er als "Vater des Vaterlandes" verehrt. Er machte Prag zu einer glänzenden Metropole, Karlsbrücke, Hradschin und der Veitsdom sind noch heute Prags Wahrzeichen. Und er schuf ein epochales Werk: Die von ihm erlassene Goldene Bulle von 1356 wurde zu einer Art Reichsgrundgesetz, sie regelte fünf Jahrhunderte lang die Wahl des Königs durch die Kurfürsten.
Die Landesausstellung ist ein Kraftakt
Grund genug für den Freistaat Bayern und für die Tschechische Republik, aus Anlass des 700. Geburtstags von Karl IV. eine gemeinsame Landesausstellung zu stemmen, gestaltet vom Haus der Bayerischen Geschichte und der Nationalgalerie Prag. Für das Haus der Bayerischen Geschichte war dies durchaus ein Kraftakt, wie dessen Direktor Richard Loibl zugibt. Immerhin läuft die Landesausstellung zum Thema Bier in Aldersbach noch mit großem Erfolg (bislang mehr als 150 000 Besucher), und die Vorbereitungen für die nächste Landesausstellung (Thema Reformation) in Coburg laufen bereits auf Hochtouren.
Die Mühen zahlen sich aber schon jetzt aus. Die Nürnberger Schau über Karl IV. ist von einer opulenten Wucht. So eine Ballung von hochwertigen Exponaten habe es hier seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben, bestätigen Loibl und Jahn. Durch die exzellenten Prager Verbindungen können nun einzigartige Kunstobjekte aus der ganzen Welt in Nürnberg gezeigt werden. Mit 180 Preziosen ist die Ausstellung nicht überfrachtet. Sie bietet ein packendes Konzentrat "über einen Brückenbauer Europas", wie es Kultusminister Ludwig Spaenle formuliert hat - trotz aller Schattenseiten, die an diesem Menschen haften.
Karl IV. - 1316-2016. Bayerisch-Tschechische Landesausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, 20. Oktober bis 5. März 2017.