München:Begehrte Schüler

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Ministerium will alle Wirtschaftsschulen stärken. Mittelschulen befürchten "erheblichen Schaden". Grüne fordern im Landtag Aufklärung

Von Anna Günther, München

Die Aufregung an vielen Mittelschulen in Bayern ist groß, seit Kultusminister Michael Piazolo vor kurzem angekündigt hat, dass er die Wirtschaftsschule ausbauen wird. Von 2020 an sollen alle 77 Schulen mit der sechsten Klasse beginnen können. Während Piazolo (Freie Wähler) und Vertreter der Wirtschaft diese Ausweitung als "Stärkung" preisen, löst dieser Schritt beim Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) großen Ärger aus: BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann spricht von einer "eklatanten Fehlentscheidung", die den Mittelschulen in Bayern "erheblichen Schaden" zufügen und "das Schulsterben beschleunigen" werde. Die Grünen im Landtag wollen nun mit einem Berichtsantrag ans Schulministerium offene Fragen klären - und den Emotionen auf den Grund gehen.

Besonders zwei Fragen müsse das Ministerium beantworten, findet Maximilian Deisenhofer, Grünen-Sprecher für berufliche Schulen: Hält die Ausweitung der Wirtschaftsschulen den Schülerschwund überhaupt auf? Und welche Auswirkung hat die Öffnung auf die anderen Schularten? "Wir haben 2012 den damaligen Modellversuch unterstützt. Allerdings wurde eine Abschlussevaluation zum Schuljahr 2018/2019 angekündigt und die wollen wir natürlich sehen", sagt Deisenhofer.

Bisher bieten elf Modellschulen eine sechste Klasse an. Fünf von ihnen seit sechs Jahren. Eigentlich endet der Modellversuch im Sommer, aber Piazolo verkündete nun die Verlängerung um ein Jahr und eine Erweiterung um 14 Modellschulen. An allen anderen Wirtschaftsschulen werden Schüler frühestens von der siebten Klasse an auf kaufmännische Berufe vorbereitet und verlassen die Schule im Idealfall mit einem mittleren Schulabschluss.

Durch den demografischen Wandel hängt nicht nur im ländlichen Raum bei allen Schulen viel an der Ressource Kind: Die Zahl der Klassen, der Lehrerstunden, das schulische Angebot und das Gehalt des Schulleiters. Trotzdem plädiert Pankraz Männlein, der Verbandsvorsitzende der Lehrer an beruflichen Schulen dafür, die Schärfe aus der Debatte zu nehmen. Alle hätten doch das gleiche Ziel, sagt er. Simone Fleischmann sage doch selbst immer, dass das wichtigste am Übertritt eine Schule sei, die zum Kind passe. Die Ausweitung der Wirtschaftsschulen versteht Männlein als Beitrag zur Vielfalt im Schulsystem, in dem jedes Kind eine Schule finden und seine Stärken ausleben soll. Der Bedarf sei da, sonst würden die Wirtschaftsschulen das Angebot nicht machen.

Im Ministerium kann man die Aufregung nicht verstehen, die Zahlen seien eindeutig: Der Modellversuch zeige, dass "keine signifikanten Schülerverlagerungen zulasten der Mittelschule erfolgt sind". Während die Zahl der Achtklässler an Mittelschulen zwischen 2015 und 2017 angestiegen sei, hätten die Wirtschaftsschulen weiter verloren. Die sechste Klasse bringe "lediglich eine Stabilisierung, nicht aber eine Ausweitung der Wirtschaftsschule". 2,5 Prozent der Achtklässler besuchen Wirtschaftsschulen, alle anderen verteilen sich mit je etwa 30 Prozent auf Gymnasium, Real- und Mittelschule. Insgesamt lernen derzeit 17 625 Mädchen und Buben im Freistaat an Wirtschaftsschulen. An den 971 Mittelschulen sind es 198 100.

Alles kein Problem? In Deggendorf gibt es zwei Mittel- und eine Wirtschaftsschule. Die Mehrheit der Wechsler in die 6. Klasse kommt aus der Mittelschule, viele aus dem Gymnasium. "Aber wir gefährden hier definitiv keine Mittelschule", sagt Wirtschaftsschuldirektor Johann Riedl. Seine Schule nimmt seit sechs Jahren am Modellversuch teil. Die sechste Klasse sieht er als Beitrag zur Entzerrung des Übertritts, Kinder könnten ein Jahr länger reifen, bevor sie sich für eine Schullaufbahn entscheiden. Die Bedrohung nennt Riedl "Konstrukt". Mittelschulen dürften "ihren eigenen Laden nicht schlechtreden", sie müssten Stärken wie enge Betreuung und Kontakte zur Wirtschaft betonen. Dagegen spricht Robert Seif, Chef der Deggendorfer Mittelschule Theodor Heuss, von einem "allgemeinen Rückgang der Schülerzahlen" an beiden Mittelschulen und von einer Gefährdung des M-Zuges, in dem Mittelschüler ihren mittleren Schulabschluss machen. Gerade diese Kinder wechseln nach der fünften Klasse auf die Wirtschaftsschule, sagt Seif. Auch weil keine Aufnahmekriterien gelten, für den M-Zug ist in Mathe, Deutsch und Englisch ein Notenschnitt von 2,66 Voraussetzung.

Für BLLV-Präsidentin Fleischmann ist dies "unzulässige Privilegierung". Wer mit Mittelschullehrern spricht, hört sogar den verpönten Begriff "Resteschule", spürt Resignation und Wut. Noch überlässt das Ministerium den Modellschulen die Entscheidung, wen sie in die sechste Klasse aufnehmen. Orientieren sollen Direktoren sich aber am Notenschnitt 2,66.

Der Streit zeigt für Matthias Fischbach (FDP) den Fehler im System: Das Geld folgt den Kindern. Er würde die Wirtschaftsschulen zur fünften Klasse öffnen und die Mittelschulen besser ausstatten, damit Wettbewerb zwischen allen Schularten herrsche. So steige die Qualität, Schulen und Kinder würden profitieren - vorausgesetzt die Schulen dürfen über Budget und Personal entscheiden.

© SZ vom 04.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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